Kaschmir-Konflikt

»Der dunkelste Tag«

Die indische Regierung hat Kaschmirs Autonomie aufgehoben. Der Konflikt mit Pakistan droht zu eskalieren und der Terrorismus könnte neuen Aufschwung bekommen.

Daran sei man schon gewöhnt, meint Sanam Wazir. In den vergangenen ­Tagen war von gewaltsamen Zusammenstößen und Schusswechseln an der Grenze zwischen dem pakistanischen und indischen Teil Kaschmirs berich­tet worden. Der 29jährige Menschenrechtler Wazir, der selbst aus Kaschmir kommt, ist trotz der Gewöhnung alarmiert. »Ich mache mir Sorgen wegen der Entfremdung der Menschen voneinander«, sagt er.

Am 5. August hatte die indische Regierung den Sonderstatus des Bundesstaats Jammu und Kaschmir aus der Verfassung gestrichen. Seit dieser ­umstrittenen Entscheidung haben die Spannungen im indischen Teil Kaschmirs und zwischen den beiden verfeindeten Atommächten Indien und Pakistan zugenommen. Indien hatte eine Ausgangssperre in der Region verhängt, die Präsenz der Armee auf den Straßen erhöht, um Proteste zu unterbinden, und das Internet, den Mobilfunk und die Festnetztelefonie blockiert. Bis Redaktionsschluss waren viele Menschen in Kaschmir immer noch von der Kommunikation abgeschnitten, auch wenn Behörden am Samstag Lockerungen versprachen und am Sonntag einige Telefonleitungen wieder freigaben. Am Montag öffneten manche Schulen wieder, doch viele ­Eltern behielten ihre Kinder lieber noch zu Hause.

Zunächst gab es kaum Proteste, doch Ende vergangener Woche gingen im ­indischen Teil Kaschmirs Tausende Menschen gegen die Entscheidung der Regierung auf die Straße. In an­deren Regionen Indiens gab es kleine Proteste. Die Nachrichtenagentur AP meldete unter Berufung auf Regierungskreise, seit dem 5. August seien mindestens 4.000 Menschen im indischen Teil Kaschmirs festgenommen worden. Die meisten der Gefangenen seien ausgeflogen worden, da die Gefängnisse bereits überfüllt seien. Die Behörden ­gaben zu, dass mehr als 100 Lokalpolitiker, Aktivisten und Akademi­ker in den ersten Tagen festgenommen worden waren. Dass Menschen gedemütigt und isoliert würden, die an Indien und seine Verfassung glaubten, sei beun­ruhigend, so Wazir. »Wenn Politiker aus Kaschmir wie Separatisten behandelt werden, wird sich die Krise weiter verschärfen.« Nur ein Dialog könne zu ­einer Lösung führen.

»Undemokratisch und verfassungswidrig«

Am 5. August hatte der indische Innenminister Amit Shah angekündigt, ­Präsident Ram Nath Kovind werde die Sonderstellung des Bundesstaats Jammu und Kaschmir beenden. Das Vorhaben der regierenden hindunatio­nalistischen Partei BJP wurde noch am selben Tag im Ober- und Unterhaus des indischen Parlaments bestätigt, während sich Lokalpolitiker in Kaschmir unter Hausarrest befanden. Die Artikel 370 und 35A der indischen Verfassung gewährten Jammu und Kaschmir bislang eine eigene Verfassung und damit weitgehende Autonomie. Der nördlichste Bundesstaat Indiens soll am 31. Oktober in die Verwaltungseinheiten Jammu und Kaschmir sowie ­Ladakh geteilt werden, die jeweils zu Unionsterritorien her­abgestuft werden. Damit wären sie der Zentralregierung direkt unterstellt. Viele Kaschmiris befürchten, dass sich dadurch nicht nur die Bevölkerungsstruktur in der Region verändern wird.

»Die Aufhebung von Artikel 370 ist undemokratisch und verfassungswidrig«, bemängelt Wazir. Jammu und Kaschmir ist der einzige von 29 Bundesstaaten Indiens, in dem die Bevölkerung mehrheitlich muslimisch ist. Das missfiel hinduistischen Hardlinern schon lange. Der Sonderstatus des Bundesstaats war die Bedingung dafür, dass sich die damals unabhängige ­Region im Oktober 1947 Indien anschloss, nachdem Pakistan Kaschmir angegriffen hatte. Unter Vermittlung der Vereinten Nationen wurde Kaschmir 1949 zwischen Pakistan und Indien aufgeteilt, doch beide beanspruchen weiterhin die gesamte Region.

Trotz mancher Vorbereitungen kam der Schritt der indischen Regierung überraschend. Vergangenes Jahr war in Jammu und Kaschmir die Koalitions­regierung der BJP mit der People’s ­Democratic Party (PDP) zerbrochen. Die indische Regierung setzte daraufhin den Gouverneur Satya Pal Malik (BJP) ein. Um einer Regierungsbildung der Opposition zuvorzukommen, löste dieser am 21. November 2018 das Parlament von Jammu und Kaschmir auf. Zuletzt wurden die Regionalwahlen verschoben. Damit sicherte sich die indische Regierung die Zustimmung des Bundesstaats zu ihrer Entscheidung, dessen Sonderstatus zu beenden.

Riskantes Manöver

Der deutsch-indische Historiker Benjamin Zachariah bewertet das Vorgehen Indiens als riskant: »Ohne Artikel 370 gibt es keine gesetzliche Grundlage, dass Kaschmir überhaupt Teil Indiens ist.« Deswegen sei der Artikel auch nicht komplett abgeschafft worden. Zudem sei es schwer einzuschätzen, wie die Entscheidung von den Nachbarstaaten aufgenommen werde, so Zachariah. ­Pakistan will die diplomatischen Beziehungen zu Indien einschränken und den bilateralen Handel aussetzen.

Manche Experten sehen die Aussage des US-Präsidenten Donald Trump während der Pressekonferenz mit Pakistans Premierminister Imran Khan am 22. Juli, die USA könnten im Kaschmir-Konflikt vermitteln, als möglichen Auslöser für ein vorschnelles Handeln Indiens. Trump äußerte die Hoffnung, Pakistan werde den USA helfen, seine Truppen aus Afghanistan zurückzuziehen. Die pakistanische Regierung versucht seither, den Kaschmir-Konflikt mit dem Konflikt in Afghanistan zu verknüpfen. Vergangene Woche sagte der pakistanische Botschafter in den USA, Pakistan könnte Truppen von der afghanischen Grenze an die Grenze Kaschmirs verlegen. Solche Aussagen, die die Lage in Kaschmir »mit den ­afghanischen Friedensbemühungen in Verbindung bringen, sind rücksichtslos, ungerechtfertigt und verantwortungslos«, kritisierte daraufhin Afghanistans Botschafterin in den USA, Roya Rahmani.

Premierminister Khan und sein ­indischer Amtskollege Narendra Modi nutzten die Lage in Kaschmir, um am Unabhängigkeitstag ihres jeweiligen Landes, am 14. beziehungsweise 15. August, von wirtschaftlichen Schwierigkeiten abzulenken. Am 73. Unabhängigkeitstag Indiens sagte Modi unter Jubel: »Was in den letzten 70 Jahren nicht geändert werden konnte, haben wir nun in den ersten 70 Tagen der neuen Regierung geschafft.« Für den 68jährigen ist der Entzug der Auto­nomie Kaschmirs ein politischer Erfolg. Doch das harte Vorgehen gegen die ­Bevölkerung der Region birgt die Gefahr, dass terroristische Gruppen erneut ­Zulauf von enttäuschten Kaschmiris bekommen.

Aus der Terrorgefahr Profit schlagen

Die Terrorgefahr weiß die indische Regierung allerdings auch für sich zu nutzen. Unmittelbar vor der Ankündigung, Jammu und Kaschmir den Sonderstatus zu entziehen, hatte Indien ­gemeldet, es gebe eine Terrorwarnung für die Region. Darauf folgten die Entsendung von Truppen, eine erste Kommunikationssperre und bald danach die totale Blockade. Dabei seien einfache Bürger in ihren Häusern eingesperrt worden, sagt Jaan Nissar Lone. »Wenn die Inder nicht an die Demokratie glauben, warum sollten wir Kaschmiris es?« fragt der aus Kaschmir stammende Musiker, der in Mumbai lebt. Politikerinnen und Poli­tiker, die für ein säkulares Indien eintreten, seien festgenommen worden, so Lone. Darunter ist die ehemalige Regierungschefin Kaschmirs (2016 – 2018), Mehbooba Mufti (PDP).

»Heute ist der dunkelste Tag der indischen Demokratie«, twitterte sie kurz vor ihrer Inhaftierung am 5. August. Durch die einseitige Entscheidung der Bundesregierung mache Indien sich zu einer Besatzungsmacht, schrieb sie weiter, seit diesem Tag gab es keine weiteren Tweets mehr. Ihre Tochter Iltija Mufti sagte ausländischen Medien, die internationale Gemeinschaft müsse handeln, denn die Menschen in Kaschmir seien »wie Tiere eingesperrt« und sie habe Angst um ihr Leben. Agenturen meldeten mutmaßliche Übergriffe von Polizisten und Soldaten auf Kaschmiris, während die Regierung friedliche Bilder aus dem Bundesstaat verbreitete. Erst allmählich wird das Ausmaß der Repression in Jammu und Kaschmir deutlich.

Die deutsche Regierung mahnte den Dialog mit der Bevölkerung an. Die UN äußerten sich besorgt, »dass die jüngsten Einschränkungen im von ­Indien verwalteten Kaschmir die Menschenrechtssituation in der Region verschärfen« werden. Am Freitag vergangener Woche beriet der UN-Sicherheitsrat hinter verschlossenen Türen. Es war die erste Sondersitzung zum Kaschmir-Konflikt seit fast 50 Jahren, was insbesondere Pakistans Premierminister Khan begrüßte. Indien dagegen besteht darauf, dass der Status der Region eine interne Angelegenheit sei. Das hatte das Parlament in einer Resolution bereits 1994 beschlossen.

Auch China mischt mit

Mit dem Verlust des Sonderstatus soll Jammu und Kaschmir sich nach dem Wunsch der ­indischen Regierung wirtschaftlich öffnen und Investoren von außerhalb an­locken, die vor allem den Tourismus entwickeln sollen. Innenminister Shah hatte die Aufhebung von Artikel 370 damit begründet, dass dieser die Entwicklung der Region hemme. Dagegen meint der Entwicklungsökonom Jean Drèze: »Im Vergleich zu den meisten indischen Staaten hat Jammu und Kaschmir eine relativ prosperierende Wirtschaft und gute ­soziale Indikatoren.« Ein Grund für die niedrige Armutsquote sei, dass es im ­indischen Teil Kaschmirs in den fünfziger und siebziger Jahren radikale Landreformen gegeben habe, die durch Artikel 370 ermöglicht wurden.

Auch China, das einen kleinen Teil Kaschmirs kontrolliert und Anspruch auf diesen erhebt, kritisierte das Vor­gehen Indiens. Die Volksrepublik baut ihre Vormachtstellung in Asien bereits in Nepal und Sri Lanka aus. Ein Teil des Infrastrukturprojekts »Neue Seidenstraße« verläuft durch den pakistanischen Teil Kaschmirs. Deshalb hat die chinesi­sche Regierung kaum Interesse an ­einer militärischen Auseinander­setzung zwischen den verfeindeten Atommächten, auch wenn sie bisher nicht unbedingt ein deeskalierendes Verhalten an den Tag gelegt hat.

Indiens Verteidigungsminister Raj­nath Singh betonte, dass man daran festhalte, Atomwaffen nicht als Erster einzusetzen. Was aber in Zukunft passiere, hänge von den Umständen ab.