Holocaust und Kolonialismus

Einebnung von Unterschieden

Waren die Verbrechen des Kolonialismus Vorläufer des Holocaust? Wer so argumentiert, bagatellisiert die Shoa.

Seit Jahrzehnten beschäftigt die ­Geschichtswissenschaft die Frage, wieso das nationalsozialistische Deutsch­land ein ausgedehntes Lagersystem aufbaute, in dem zunächst politische Oppositionelle und gesellschaftlich Missliebige interniert wurden, bevor es dann im Zweiten Weltkrieg zur systematischen Vernichtung der europäischen Juden, Sinti und Roma eingesetzt wurden. Neben seiner politischen Funktion, das heißt, Orte ­institutionalisierter Entrechtung bereitgestellt zu haben, bleiben Struktur, Logistik, personelle Ausstattung sowie die Einbindung der Lager in die Ökonomie des »Dritten Reichs« schon deshalb erklärungsbedürftig, weil der Unterschied zwischen dem Nationalsozialismus und den mörderischen, aber eben nicht auf indus­trielle Vernichtung abzielenden Einrichtungen der faschistischen Diktaturen Südeuropas einer ums Ganze gewesen ist.

Ob sich neben Antisemitismus, Bürokratismus und kollektiver Lust am Mitmachen noch andere Bedingungen für diesen systematischen Vernichtungsfeldzug der Deutschen ausmachen lassen, wird ebenfalls seit langem diskutiert, obgleich es nicht Historiker waren, die hierzu den Anstoß gaben. Schon in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre hatte der in den USA zu den wichtigsten Vordenkern der Überwindung der Rassenungleichheit zählende Soziologe W.E.B. Du Bois, der während seines Studienaufenthalts in Deutschland mit völkischem Denken in Kontakt gekommen war -, in »The World and Africa« behauptet: »Es gab keine ­Nazi-Gräueltat – ­Konzentrationslager, Verstümmelungen und Morde in großer Zahl, die Schändung von Frauen oder die entsetzliche Schmähung der Kindheit –, die nicht schon lange zuvor von Europas christlicher Zivilisation im Namen von und in Vertei­digung einer überlegenen Rasse, die geboren sei, um die Welt zu beherrschen, gegen farbige Menschen in der ganzen Welt praktiziert worden war.«

Bald darauf formulierte dann Hannah Arendt die Idee, dass die nationalsozialistische Gewaltherrschaft und der von ihr verübte Massenmord einen Vorlauf gehabt habe, der in die Ära des Kolonialismus zurückreiche. »Entscheidend für den Rassebegriff des 20. Jahrhunderts sind die Erfahrungen, welche die europäische Menschheit in Afrika machte und die erst durch den ›scramble for Africa‹ und die Expansionspolitik in das allgemeinere Bewußtsein ­Europas eindrangen«, schrieb sie in ihrer monumentalen Totalitarismus-Studie »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft« mit Blick auf die Gesellschaften der Kapkolonie und der Burenrepubliken, aus denen dann der Apartheidstaat Südafrika entstand: »Der in Afrika beheimatete Rassebegriff war der Notbehelf, mit dem die Europäer auf menschliche Stämme reagierten, die sie nicht verstehen konnten, sondern die als Menschen, als ihresgleichen anzuerkennen sie nicht bereit waren (…) Aus dem Entsetzen, daß solche Wesen auch Menschen sein könnten, entsprang der Entschluß, auf keinen Fall der gleichen Gattung Lebewesen anzugehören.«