Holocaust und Kolonialismus

Einebnung von Unterschieden

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Im Gespräch mit CNN bekräftigte sie anschließend ihr Urteil. Auf die ­Frage des Moderators, wie sie es mit dem Umstand halte, dass Überlebende der Shoah nun mit einer Nivellierung des Unterschieds zwischen Aus­löschung und Abschiebung konfrontiert seien, was unweigerlich auf eine Bagatellisierung der planmäßigen Vernichtung hinauslaufe, der sie einst entkommen waren, bekräf­tigte die Politikerin erneut ihr Urteil.

Das Verhindern von Entmenschlichung sei diejenige Lehre, die zuvörderst aus der Geschichte zu ziehen sei, denn alle anderen Schritte seien lediglich Folgeerscheinungen dieser einen, ersten Handlung, so Ocasio-Cortez. Auf die gleiche Art und Weise, wie Giorgio Agamben »nur gradu­elle Unterschiede« zur Kenntnis zu nehmen bereit ist, wird hier schon nicht mal mehr eine unterschiedliche Ausgangslage bemüht. Ob Demokratie oder Diktatur, ob versuchte Migrationskontrolle oder Genozid: ­Alles sei auf dasselbe Prinzip zurückzuführen, und alles laufe auf dasselbe hinaus. So werde die Shoah »zur bloßen Chiffre für jede Art von Verfolgung und Diskriminierung« degradiert, »um gegen Menschenrechts­verletzungen, Schmerz und Leid vorzugehen«, wie Jan Gerber diese Geisteshaltung kürzlich in der Jungle World (31/2019) am Beispiel jüngster Holocaust-Relativierungen zusammengefasst hat.

Dass solches Vorgehen nicht nur taktlos, sondern auch taktisch ist, um dem eigenen Tun moralische Dringlichkeit zuzuführen, mit der sich dann mit den entsprechen­den Slogans und Kampagnen punkten lässt, ist evident. Eine um der Außenwirkung willen inszenierte reine Gesinnung wirkt stärker als Ana­lyse. Genau dies lässt sich gegenwärtig auch in zahlreichen anderen Bereichen beobachten. Forschungsarbeiten, die sich mit der Wechselwirkung von Aktivismus und Akademie befassen, die »Decolonizing Auschwitz?« exemplarisch untersucht, wird das Material deshalb vorerst auch nicht ausgehen.

Steffen Klävers: Decolonizing Auschwitz? Komparativ-postkoloniale Ansätze in der Holocaustforschung, De Gruyter, Berlin 2019, 250 Seiten, 79,95 Euro.