Die gesammelten Schriften Otto Kirchheimers

Freiheit und Verfassung

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Deutlich wird an dieser sehr konkreten ökonomischen Studie, dass die kleinen Kapitale eine bedeutendere Rolle in der Herrschaftssicherung der Nationalsozialisten spielten, als die These vom Monopolkapitalismus suggeriert. So zeigt sich, dass dieser Epochenbegriff, als von der historisch-logischen Lesart der Marx’schen Theorie abgeleitete Abstraktion, gewissermaßen über dem empirischen Material schwebt. Hier müsste eine kritische Revision der dialektischen Theorie des Pluralismus heute ansetzen, wollte sie noch Gültigkeit beanspruchen. Vor dem Hintergrund ließe sich der Doppelcharakter moderner Herrschaft in den Schriften Kirchheimers im Sinne ­einer kritischen Gesellschaftstheorie aktualisieren. Der Strukturwandel des politischen Kompromisses könnte dann ohne kulturpessimistischen Unterton als Ausdruck ökonomischer und sozialer Krisenprozesse gedeutet werden, die auch heute als Krise der Demokratie in Erscheinung ­treten.

Mit dem weit in die Mitte des bürgerlichen Liberalismus hinein reichenden pathisch-projektiven Krisengefühl der Gegenwart korrespondiert die Sehnsucht nach dem autoritären Staat im Ausnahmezustand. Der grassierende Antisemitismus und Rassismus und die verstärkte ­Rezeption der Schriften Schmitts durch die extreme Rechte – sowie in Teilen der Linken – weisen dabei eine bemerkenswerte Gleichzeitigkeit auf. Im Erbe des dialektischen Pluralismus Kirchheimers und Neumanns liegt indes das Potenzial ­einer antagonistischen Kraft zu diesen Entwicklungen. Denn ihr Ansatz kann zu einer gesellschaftstheoretischen Rekonzeptualisierung des Demokratiebegriffs jenseits direktdemokratischer Romantisierung des Kollektivismus und repräsentativdemokratischem Zynismus gegenüber sozialen Krisentendenzen der Demokratie beitragen. Deshalb ist es von so großer Bedeutung, dass sie durch die Herausgabe der Kirchheimer-Edition zugänglich gemacht wurde. Buchstein und Hochstein liefern hierfür mit ihrer klar strukturierten, gut aufbereiteten und tiefgründigen Einleitung einen ebenso guten wie prägnanten Ansatz. Er dient hoffentlich als Ausgangspunkt für eine historisch-kritische Rekon­struktion der Schriften Kirchheimers.

Hubertus Buchstein/Henning Hochstein (Hg.): Otto Kirchheimer. Gesammelte Schriften. Band 2: Faschismus, Demokratie und Kapitalismus. Nomos-Verlag, Baden-Baden 2018, 575 Seiten, 59 Euro.