Lahme Literaten, Folge 20

Literatur aus Langeweile

Schreibt Nora Bossong echte Kunst oder nur falsche Grammatik?

Das waren noch Zeiten im alten Westberlin, als Botho Strauß vom Café Einstein aus durch achteckige Brillengläser Paare und Passanten beobachtete, um sie in seiner kahlen Sechs-Zimmer-Wohnung zum Gegenstand verächtlich-melancholischer Betrachtung zu machen. Wenn die Vorsehung ein Einsehen hatte, konnte sich später ein Mädchen mit Zierkamm auf einer Bank im Tiergarten bei der Lektüre der Vignette über das Mädchen mit Zierkamm an einen kleinen Mann ­erinnern, der sie einmal beobachtet hatte.

Selbst die hektischen Skizzen von Rainald Goetz, in denen wiederum Botho Strauß als Kulturabfall auftaucht, kennen die Figur des Schriftstellers als Stadtgänger, dessen Imagination aus der Erfahrung urbanen Alltags erwächst. Erst wenn die Stadt so roh und öde geworden ist wie der Schriftsteller phantasielos, wird aus dem Prosa­gedicht der Werbetext, der immer schon in ihm angelegt war. Das klingt dann wie in einem Tagesspiegel-Artikel von Nora Bossong über das Café Sur an der Schöneberger Akazienstraße: »Was ist das Geheimnis der guten Cafés? Es ist die Verbindung von Ruhe und Gesellschaft, und das erklärt, warum gerade Menschen wie ich, die einer tendenziell vereinsamenden Tätigkeit nachgehen, nämlich Bücher schreiben, sich zu diesen ­Orten hingezogen fühlen.«

Es erklärt aber nicht, warum Bossong statt über ein x-beliebiges Café über dieses eine schreibt, das sie schildert wie ein x-belie­biges: »Eine Kreuzung, eine Ampel, ein paar Bäume«; »Stühle, einige mit hartem Holzsitz, andere gepolstert«; »die ewig gleiche Musik«. Dass sie ihren Text »Abschied vom Café Sur« nennt, obwohl die Location nur den Besitzer gewechselt hat, spricht dafür, dass die tendenziell Vereinsamte die Verbindung zur Wirklichkeit nicht aus Scheu oder Verachtung, sondern aus Langeweile gekappt hat. Langeweile an der Wirklichkeit bestimmt alles, was Nora Bossong schreibt.