Klassenkampf

Safety first

Warum Eltern ihre Kinder sogar beim Pinkeln überwachen wollen.
Kolumne Von

Schule ist heutzutage ganz nah dran am Puls der Zeit. Zumindest, wenn das Internet gerade funktioniert und die zuständige Lehrkraft nicht zu ab­gestoßen ist von dem neumodischen Quatsch, den Menschen, die in schülerlosen Elfenbeintürmen sitzen und trotzdem den ganzen Tag Schulbücher produzieren, in diese hineingeschrieben haben. Aber insgesamt stellen wir uns schon oft todesmutig brandaktuellen Themen, denn was für uns versierte Lehrkräfte nie ein Hindernis darstellt, ist die eigene Ahnungslosigkeit. Hochmoderne Topics wie etwa diese sozialen Medien erschließen wir uns im Zweifel per Google, und wenn das Internet mal wieder kaputt ist, kann man immer noch ein Referat vergeben.

Im Oberstufenunterricht des Fachs Englisch zum Beispiel setzen wir uns ein halbes Jahr lang intensiv mit den neuesten Entwicklungen in Wissenschaft und Technik auseinander und lernen abgefahrenes Fachvokabular zu Themen wie Gentechnik, Überwachungsstaat und Roboter sowie den Unterschied zwischen Utopie und Dystopie kennen. Was cool ist, weil man dabei jede Menge Science-Fiction-Filme gucken kann und niemand so richtig etwas dagegen ­haben darf. Interessant erscheint mir dabei Jahr um Jahr aufs Neue, dass unsere Schülerschaft bei umstrittenen Errungenschaften etwa im Bereich Gentechnik weniger Berührungsängste zeigt als etwa beim ­Essen aus der Schulcafeteria, vielleicht, weil sie Erstere im Unterschied zu Letzterem fälschlicherweise nicht sofort mit Gemüse assoziiert.

Im Bereich Überwachung hingegen ist eine gewisse Arglosigkeit für mich wenig überraschend, nicht nur der oben erwähnten sozialen Medien wegen, sondern auch weil unsere Jugendlichen überwiegend Elternhäusern entstammen, in denen Überwachung ganz selbstverständlich mit Sicherheit gleichgesetzt wird. In einer Debatte, die durch den Diebstahl von 20 Euro und einer Taucherbrille angeregt wurde, konnten mehrere Kolleginnen nur mit Mühe eine Gruppe von Eltern aufhalten, die in einem Anfall ungewohnten Engagements einen Brief an die Schulleitung schreiben wollten, um die Überwachung des gesamten Schulgeländes einschließlich der Toiletten mit zu installierenden Kameras zu fordern. Eigentlich insbesondere der Toiletten, weil man ja nie weiß, was die Schüler da alles machen.

Ich glaube, wir haben damals gar nicht gefragt, wer sich in der Vorstellung der Eltern die ganzen Aufnahmen pinkelnder Kinder hätte ansehen sollen, aber vielleicht ist das ja auch nebensächlich, safety first. Jedenfalls ist es nicht erstaunlich, dass diese Kinder eher kein Problem mit Daten sammelnden Firmen entwickeln, immerhin beobachtet Google sie nicht auf dem Klo. Oder tut es das? Darüber muss ich einmal ein Referat vergeben.