Der Verdi-Vorsitzende Frank Bsirske tritt ab

Deeskalieren mit dem Stinkefinger

Seite 3

In jüngsten Jahren hat sich diese Entwicklung jedoch deutlich verlangsamt. Den strukturell bedingten Mitgliederverlusten in den einstigen Kernbelegschaften stehen Erfolge in vormals wenig organisierten Bereichen gegenüber, insbesondere in sozialen Berufen. Ein Grund hierfür ist, dass Verdi von Anfang an der Organisierung weiblicher Beschäftigter hohe Bedeutung beimaß. Anders als bei anderen Mitgliedsgewerkschaften des DGB stellen Frauen bei Verdi über die Hälfte der Mitglieder; nur bei der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) verhält es sich ebenso. Zudem sind Selbständige seit der Gründung der Gewerkschaft als eigenständige Gruppe vertreten. In den vergangenen Jahren konnte Verdi auch verstärkt junge Beschäftigte als Mitglieder gewinnen.

Nicht zuletzt hat Bsirske dazu beigetragen, dass die Gewerkschaften trotz der Mitgliederverluste ­weiterhin als gesellschaftspolitische Kraft wahrgenommen werden. Immer wieder meldete er sich zu politischen Themen zu Wort, sei es gegen das Freihandelsabkommen TTIP, gegen die AfD, gegen den Ausbau der staatlichen Überwachung oder wie zuletzt mit ­seinem Aufruf zur gewerkschaftlichen Beteiligung an den Klimaprotesten. Seit Jahren prangert er die ungleiche Vermögens- und Einkommensverteilung an und zeigt dabei auch mal seinen berühmt gewordenen doppelten Stinkefinger. Während sich Verdi unter Bsirkse in gesellschaftspolitischen Fragen deutlich links von den meisten anderen DGB-Gewerkschaften positionierte, vertrat der Vorsitzende jedoch häufig eine zu­rückhaltende Lohnpolitik und setzte in Tarifkonflikten eher auf Deeskalation als auf die Stinkefinger. Insbesondere im ­Tarifbereich des öffentlichen Dienstes, den Bsirske zum wichtigsten Betätigungsfeld erklärt hatte, gab es allenfalls moderate Lohnerhöhungen zu verzeichnen.

Ob der 67jährige sich mit dem Ende seiner Zeit als Vorsitzender von Verdi in den Ruhestand verabschiedet, bleibt abzuwarten. Eine Rückkehr in die Politik nach seiner Amtszeit hat er auf Nachfrage nie ausgeschlossen. Der erste ­grüne Gewerkschaftsvorsitzende hat wesentlich zur Annäherung zwischen dem DGB und seiner Partei beigetragen. Bei der von den Grünen angestrebten strategischen Partnerschaft mit den Gewerkschaften (Jungle World 12/2019) könnte ihm also eine Schlüsselrolle zukommen.