Der Verdi-Vorsitzende Frank Bsirske tritt ab

Deeskalieren mit dem Stinkefinger

Frank Bsirske ist seit der Gründung von Verdi im Jahr 2001 Vorsitzender der Gewerkschaft. Nun endet seine Amtszeit.

Die Delegierten des fünften Bundeskongresses von Verdi werden am 24. September in Leipzig eine Premiere erleben: Zum ersten Mal seit der Gründung der Gewerkschaft im März 2001 wird der Name Frank Bsirske nicht auf der Kandidatenliste für die Wahl des Vorsitzenden stehen. Beinahe 20 Jahre lang stand Bsirske der Dienstleistungsgewerkschaft vor – und wurde in dieser Zeit zu einem der bekanntesten Gewerkschafter der Bundesrepublik.

Frank Bsirske ist es zwar gelungen, »den Laden« zusammenzuhalten. Doch die Bilanz seines beinahe 20jährigen Vorsitzes bei Verdi fällt ambivalent aus.

Noch im November 2000 kannten selbst die wenigsten Gewerkschafter seinen Namen. Damals wurde Bsirske mehr oder minder über Nacht vom Personaldezernenten der Stadt Hannover zu einem der einflussreichsten Gewerkschaftsfunktionäre Deutschlands. Nachdem der damalige Vorsitzende der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV), Herbert Mai, überraschend auf seine für den nächsten Tag anstehende Kandidatur zur Wiederwahl verzichtet hatte, schlug der niedersächsische Bezirksleiter Horst Fricke in einer nächtlichen Krisensitzung des Gewerkschaftsvorstands seinen ehemaligen Stellvertreter Bsirske als Kandidaten vor, der auch vielen in der ÖTV-Leitung bis dahin unbekannt gewesen war. Am nächsten Tag reiste Bsirske zum Gewerkschaftstag, stellte sich mit einer improvisierten Rede den Delegierten vor und wurde zum neuen Vorsitzenden gewählt.

Der studierte Politologe verfügte weder über eine starke Hausmacht noch hatte er die übliche jahrelange Ochsentour durch den gewerkschaftlichen ­Apparat hinter sich. Auch sonst fehlten ihm einige typische Merkmale eines Gewerkschaftsvorsitzenden: Er hatte keinen Führerschein und kein SPD-Parteibuch. Bsirske war er 1981 der Grün-Alternativen Bürgerliste beigetreten, bis 1989 Fraktionsmitarbeiter der Grünen in Hannover gewesen und nach der Kommunalwahl 1996, bei der er einen Stadtratssitz für die Grünen errungen hatte, Personal- und Organisationsdezernent der Landeshauptstadt geworden. Als Grüner war Bsirske in den Gewerkschaften damals ein Exot.
Zuvor hatte er bereits einige politische Stationen hinter sich gelassen. Mit 15 Jahren war der Sohn eines kommunistischen VW-Arbeiters und einer Krankenpflegerin in die SPD eingetreten, hatte sich im sozialistischen Schülerbund engagiert und in Wolfsburg Proteste gegen den Vietnam-Krieg organisiert. 1969, mit 17, musste er die SPD verlassen, nachdem er sich für eine Zulassung der DKP zu den Wahlen ausgesprochen hatte. Trotzdem wurde Bsirske nach seinem Studium 1978 Bildungs­sekretär der SPD-nahen sozialistischen Jugendorganisation SJD/Die Falken.

 

Die Wahl eines Grünen zum Vorsitzenden der zweitgrößten Gewerkschaft des DGB im November 2000 war ein Novum. Trotz der Regierungskoalition mit den Sozialdemokraten seit 1998 und einer kleinen Annäherung an den DGB galt die Partei vielen Gewerkschaftern als Arbeitsplatzvernichterin und Standortgefährderin. Bsirske übernahm die Leitung zudem in einer schwierigen Phase. Die Fusion der ÖTV mit der Deutschen Postgewerkschaft (DPG), der Gewerkschaft Handel, Banken, Versicherungen (HBV), der Deutschen Angestelltengewerkschaft (DAG) und der Industriegewerkschaft (IG) Medien zur Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (Verdi) war aus der Not geboren. Unterschiedliche Organisationsformen prallten aufeinander; die DAG war zuvor nicht einmal Mitglied des DGB gewesen. Während die kleineren Gewerkschaften befürchteten, von der weitaus größeren ÖTV dominiert zu werden, zeigten sich deren Mitglieder skeptisch gegenüber der neuen Organisationsform. Dennoch gelang es Bsir­ske, die erforderliche Mehrheit für eine Auflösung der ÖTV und die Gründung von Verdi zu gewinnen. Am 20. März 2001 wurde er zum Vorsitzenden der neu gegründeten Gewerkschaft gewählt.

Bei ihr handelte es sich um einen ­Zusammenschluss geschwächter Orga­ni­sationen. Arbeitslosigkeit, Deregu­lierung und der Abbau sozialstaatlicher Strukturen hatten die neunziger Jahre geprägt. Die Privatisierungswelle, die Ausweitung des Niedriglohnsektors, das sogenannte Kaufhaussterben und der Wandel in der Speditions- und Logistikbranche hatten vor allem die Gewerkschaften getroffen, die sich als Verdi zusammenschlossen; die Zahl der in ihnen organisierten Beschäftigten war in diesen Jahren geschrumpft – mit verheerenden Auswirkungen auf die gewerkschaftliche Durchsetzungskraft und die Streikfähigkeit. Nicht zuletzt finanzielle Probleme hatten einige der Gewerkschaften zur Fusion gezwungen.

Bsirskes Aufgabe war es zunächst, Organisationen mit ganz unterschiedlichen Interessen zur Zusammenarbeit zu bewegen. Gewerkschaftsgliederungen mit einer langen Tradition in der Friedensbewegung standen Beschäftigten der Bundeswehr gegenüber, Atomkraftgegner den Beschäftigten in der Atombranche, Erwerbslose, die in Verdi eine eigene Personengruppe bilden, den Mitarbeitern in Arbeitsagenturen und Jobcentern. Zudem fielen mit der Fusion eine Vielzahl unterschiedlicher Tarifbereiche und mehr als 1 000 verschiedene Berufe von Krankenpflegern über Bankangestellte und Journalisten bis hin zu Hochschulprofessoren in den Zuständigkeitsbereich der Dienstleistungsgewerkschaft.

Bsirske hat eine seiner wichtigsten Aufgaben erfüllt: Es ist ihm gelungen, »den Laden« zusammenzuhalten. Doch die Bilanz seines beinahe 20jährigen Vorsitzes fällt ambivalent aus. Von der vielbeschworenen »Vielfalt in der Einheit« und damit von einer schlagkräftigen Organisierung und Koordination über die verschiedenen Dienstleistungsbranchen hinweg ist Verdi immer noch weit entfernt. Ständige Umstrukturierungen und Debatten über interne Entscheidungs- und Organisationsabläufe lähmen die Großgewerkschaft. Zudem konnte auch die Fusion den Mitgliederverlust im Dienstleistungssektor nicht aufhalten. Waren zum Zeitpunkt der Gründung noch fast drei Millionen Beschäftigte bei Verdi organisiert, sind es mittlerweile nur noch zwei Millionen.

 

In jüngsten Jahren hat sich diese Entwicklung jedoch deutlich verlangsamt. Den strukturell bedingten Mitgliederverlusten in den einstigen Kernbelegschaften stehen Erfolge in vormals wenig organisierten Bereichen gegenüber, insbesondere in sozialen Berufen. Ein Grund hierfür ist, dass Verdi von Anfang an der Organisierung weiblicher Beschäftigter hohe Bedeutung beimaß. Anders als bei anderen Mitgliedsgewerkschaften des DGB stellen Frauen bei Verdi über die Hälfte der Mitglieder; nur bei der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) verhält es sich ebenso. Zudem sind Selbständige seit der Gründung der Gewerkschaft als eigenständige Gruppe vertreten. In den vergangenen Jahren konnte Verdi auch verstärkt junge Beschäftigte als Mitglieder gewinnen.

Nicht zuletzt hat Bsirske dazu beigetragen, dass die Gewerkschaften trotz der Mitgliederverluste ­weiterhin als gesellschaftspolitische Kraft wahrgenommen werden. Immer wieder meldete er sich zu politischen Themen zu Wort, sei es gegen das Freihandelsabkommen TTIP, gegen die AfD, gegen den Ausbau der staatlichen Überwachung oder wie zuletzt mit ­seinem Aufruf zur gewerkschaftlichen Beteiligung an den Klimaprotesten. Seit Jahren prangert er die ungleiche Vermögens- und Einkommensverteilung an und zeigt dabei auch mal seinen berühmt gewordenen doppelten Stinkefinger. Während sich Verdi unter Bsirkse in gesellschaftspolitischen Fragen deutlich links von den meisten anderen DGB-Gewerkschaften positionierte, vertrat der Vorsitzende jedoch häufig eine zu­rückhaltende Lohnpolitik und setzte in Tarifkonflikten eher auf Deeskalation als auf die Stinkefinger. Insbesondere im ­Tarifbereich des öffentlichen Dienstes, den Bsirske zum wichtigsten Betätigungsfeld erklärt hatte, gab es allenfalls moderate Lohnerhöhungen zu verzeichnen.

Ob der 67jährige sich mit dem Ende seiner Zeit als Vorsitzender von Verdi in den Ruhestand verabschiedet, bleibt abzuwarten. Eine Rückkehr in die Politik nach seiner Amtszeit hat er auf Nachfrage nie ausgeschlossen. Der erste ­grüne Gewerkschaftsvorsitzende hat wesentlich zur Annäherung zwischen dem DGB und seiner Partei beigetragen. Bei der von den Grünen angestrebten strategischen Partnerschaft mit den Gewerkschaften (Jungle World 12/2019) könnte ihm also eine Schlüsselrolle zukommen.