Krav Maga im Selbstversuch

Süße Träume in Tel Aviv

Extremsport im Selbstversuch: Die israelische Kampfsportart Krav Maga ist in der Armee obligatorisch. Aber auch unter Zivilisten ist sie beliebt.

Das Nakash-Boxing-Gym liegt an einer großen, heißen und viel befahrenen Straße in der Nähe des HaShalom-Bahnhofs in Tel Aviv. Im zweiten Stock eines Wohnhauses haben Itay Dannenberg und Ran Nakash ihre Kampfsportschule eröffnet. Die beiden kennen sich seit Kindertagen und haben beide in der israelischen Armee Krav Maga (Kontaktkampf) gelehrt. Beide betreiben Kampfsport, seit sie zehn Jahre alt sind.

Dannenberg trainiert heutzutage die Bodyguards der Knesset, während Nakash Oberbefehlshaber und Chefausbilder der Israel Defense Forces (IDF) Krav Maga Instructional Division ist. Sie geben Lehrgänge in der ganzen Welt, in ihrer Schule trainieren sie Männer, Frauen und ­Kinder.

Aufmerksam beobachten. Abwehr einer Messerattacke.

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Archiv 2. Juni

Jeder Soldat und jede Soldatin lernt in der Armee die israelische Selbstverteidigung. Je nach ihrer Stellung in der IDF beherrschen sie unterschiedliche Niveaus und Techniken des Kampfsports. Krav Maga richtet sich an Polizisten, Soldaten, Personenschützer und Zivilisten. Je nach Bedarf lernen die Schüler, sich in verschiedenen Situationen zu verteidigen.

»Ein Soldat lernt natürlich andere Techniken als ein Zivilist«, sagt Nakash. »Auf der Straße geht es eher darum, einen Messerangriff oder eine Vergewaltigung abzuwenden. Dazu sollen die Leute in der Lage sein, Kämpfen aus dem Weg zu gehen oder ihre Angreifer schnell und effektiv zu verletzen.« Ziel der Verteidigung sei es, die gefährliche Situation so schnell wie möglich zu verlassen. »Am besten, man rennt einfach weg, nachdem man den Angreifer verletzt hat.« Anders verhält es sich bei Polizisten oder Soldaten, die sollten Angreifer überwältigen können. »Man kann ja nicht immer gleich schießen«, räumt er schmunzelnd ein. Daher sei es wichtig, auch Entwaffung und Ähnliches zu üben. Auch Entführungen gehören beim Krav-Maga-Training zum Repertoire der Rollenspiele.

 

Dannenberg und Nakash demons­trieren einige Angriffsszenarien. Ein frontaler Fußtritt in den Unterleib des Angreifers oder bei kürzerer Entfernung ein Stoß mit dem Knie sorgt für den initialen Schmerz. Der Angreifer beugt sich kurz nach vorne. Das ist der Moment für den »Hammer«, wie Nakash den heftigen Faustschlag ins Genick nennt. »Danach Gute Nacht«, sagt der Profiboxer mit dem Spitznamen »Sweet Dreams« und lacht. »Tot?« fragt die Geschäftsführerin der Jungle World besorgt. »Nein, nein«, winkt Nakash ab, »er schläft nur.«

Mit Anlauf in die Weichteile. Wer zögert, hat verloren.

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Archiv 2. Juni

In der Tat ist für die kurze Abfolge von Schlägen, Tritten, Stößen kaum Technik nötig. Beinarbeit oder Abwehr sind kein Thema – es geht um Schnelligkeit und den Überraschungseffekt. Viele Techniken basieren auf Schlägen, Tritten und Hebeln mit Handballen, Ellbogen oder Knien. Das empfundene Erfolgserlebnis stellt sich umgehend ein, als unsere kleine Trainingsgruppe auf die große Pratze eindrischt. Doch übermütig solle man nicht werden, warnt Nakash. Der 1,78 Meter große Athlet hat Oberarme, so dick wie Hydranten. Das Portal »Internet Index of Tough Jews« berichtet, er habe ein riesiges Davidstern-Tattoo auf seinem Rücken. Fast zärtlich legt er seine Hand auf das Schlüsselbein der Redakteurin und drückt sanft zu. Man dürfe sich nie ganz sicher fühlen, sagt er und klappt blitzschnell seine Fingerspitzen um, so dass sie sich ohne viel Kraft, aber schmerzhaft unter den Kehlkopf bohren.

Die Ursprünge des Krav Maga gehen auf den 1910 in Budapest geborenen Imrich Lichtenfeld zurück, der in Bratislava aufwuchs. Lichtenfeld war als Boxer und Ringer erfolgreich und hatte von seinem Vater einige Jiu-Jitsu-­Techniken gelernt. In den dreißiger Jahren brachte Lichtenfeld seine selbst entwickelte Kampfmethode seinen jüdischen Freunden bei, um sich gegen antisemitische Übergriffe zu schützen. Lichtenfeld verließ die Slowakei 1940 und kam 1942 nach Palästina. Dort unterrichtete er in den zionistischen Untergrundorganisationen Haganah und Palmach. Nach Gründung des Staates Israel 1948 wurde Lichtenfeld Nahkampfausbilder in der Armee. Im August 1971 gab Lichtenfeld den ersten zivilen Krav-Maga-Kurs in seinem Trainingsclub in Netanya.

 

Seitdem habe sich der Sport weiterentwickelt und auf neue Situationen und Zielgruppen eingestellt, besonders Frauen seien heutzutage daran interessiert, Krav Maga zu erlernen, sagt Dannenberg. Ihnen vermittele Krav Maga nicht nur die Möglichkeit zur Selbstverteidigung, sondern auch das nötige Selbstbewusstsein. In Rollenspielen werden Stresssituationen eingeübt. Die Schülerinnen sollen auch lernen, gefährliche Situationen zu antizipieren. »Wenn dich einer nach deiner Telefonnummer fragt, musst du ihm ja nicht gleich in die Eier treten«, räumt Dannenberg ein. Aber die Vermeidungsstrategie oder ein zaghaftes Wegschieben eines unangenehmen Verehrers – davon hält er auch nicht viel. »Wenn du dich für die Selbstverteidigung entscheidest, musst du es auch durchziehen. Nicht 50 Prozent, sondern 100.«

Der »Hammer« beendet den Kampf.

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Archiv 2. Juni

Krav Maga orientiert sich nicht an den klassischen Kampfsportarten wie zum Beispiel Karate oder Judo. Tritte in die Weichteile, Schläge auf die Ohren oder Griffe in die Augen gelten dort als unfair und sind im sportlichen Wettkampf verboten. Wettkämpfe, in denen sich die Sportler im Ring miteinander messen, gibt es im Krav Maga auch nicht. »Im Ring würdest du einen Kampf gegen eine körperlich stärkere Person sicher verlieren«, erklärt Nakash. Es gehe aber weniger um das Gewinnen als um das Beenden des Kampfs. »In Angriffssituationen nutzen wir das Überraschungsmoment aus. In der Regel lässt der Angreifer ab, wenn er auf krasse Gegenwehr von Frauen trifft.«

Beim Training mit dem Messer aus Hartplastik geht es nicht um die Entwaffnung des Angreifers. Das sei Unfug und zu gefährlich, sagt Dannenberg. In Israel sei die Übung dennoch beliebt, weil es immer wieder zu Messerangriffen komme. Mit dem Unterarm blockt er den Arm mit dem Messer, während er mit der anderen Hand das Kinn oder die Augen des Angreifers attackiert. Diese beherzte Art der Selbstverteidigung ist ein ­Exportschlager. »So ähnlich wie Hummus«, sagt Dannenberg. In Europa, den USA und Australien haben sich in den vergangenen Jahren zahlreiche Krav-Maga-Schulen gegründet in die regelmäßig Trainer aus Israel eingeladen werden. Dannenberg ist gerade von einem Lehrgang in Bayern zurückgekommen. »In Deutschland scheinen die Leute vor den Flüchtlingen Angst zu haben«, stellt er sich vor. Dass die Sportart aber ausgerechnet dort so beliebt ist, führt er nicht auf Rassismus zurück. »Insbesondere die Deutschen mögen Krav Maga, weil es effektiv und direkt ist«, sagt er und lacht.