Über das Verhältnis von Antizionismus und Antisemitismus

Antizionismus und Antisemitismus

Seite 6

Aber es gibt viel zu kritisieren: Meine zionistischen Freunde in Israel kämpfen seit Jahren für volle Gleichberechtigung zu Hause und gegen die Grausamkeiten der Besatzung und den Fanatismus der Siedlerbewegung. Die heftige Opposition gegen die Politik der derzeitigen israelischen Regierung (Stand April 2019, ohne Verbesserung in Sicht) erscheint mir gerechtfertigt, je heftiger, desto besser. Ich werde eine Liste der Dinge aufstellen, die gesagt werden müssen, da ich als Verteidiger des Zionismus anerkannt werden möchte, aber nicht als Apologet dessen, was die Leute, die sich selbst Zionisten nennen, heutzutage in Israel tun – und auch gestern getan haben (Verfechter des palästinensischen Nati­onalismus könnten erwägen, eine ähnliche Liste der Pathologien der palästinensischen Politik vorzulegen):

  1. Die arabischen Bürger Israels sind in vielen Bereichen des täglichen Lebens diskriminiert, insbesondere im Wohnungsbau und bei der Bereitstellung staatlicher Mittel für Bildung und Infrastruktur.
  2. Mit dem jüngsten Nationalstaatsgesetz zeigte die Knesset den arabischen Bürgern den Mittelfinger. Obwohl das Gesetz keine rechtlichen Konsequenzen hat, kündigt es eine Staatsbürgerschaft zweiter Klasse an.
  3. Das Westjordanland ist ein Ort aggressiver Besiedlung, von Beschlagnahme von Land und Wasser und gesetzloser Militärherrschaft.
  4. Siedlerschläger handeln täglich gewaltsam gegen Palästinenser, ohne von der israelischen Polizei oder Armee wirksam daran gehindert zu ­werden.
  5. Die gegenwärtige Regierung verwendet antiarabische Aufstachelung als Methode der Herrschaft und zielt auf einen einzigen Staat ab, der bald von einer jüdischen Minderheit dominiert werden dürfte (ich werde später auf »einen Staat« zurückkommen).

Eine solche Kritik hat nichts mit Antizionismus oder Antisemitismus zu tun. Es geht um die Politik von Regierungen, aber Regierungen regieren Staaten nur; sie verkörpern sie nicht. Regierungen kommen und gehen – zumindest ist zu hoffen, dass sie es tun –, während Staaten um der Männer und Frauen willen Bestand haben, deren Leben sie schützen. Die Kritik an den Regierungen Israels darf also nicht die Ablehnung der Existenz dieses Staates beinhalten. Die Brutalität der Franzosen in Algerien erforderte heftige Kritik, aber keiner der Kritiker, an die ich mich erinnere, war gegen die französische Staatlichkeit. Die brutale Behandlung von Muslimen im Westen Chinas erfordert zurzeit scharfe Kritik, aber niemand fordert die Abschaffung des chinesischen Staats.

Einige Linke behaupten, dass die langen Jahre der Besatzung und der rechte Nationalismus der Regierung Netanyahu den »wesentlichen Charakter« des jü­dischen Staates offenbarten. Das dürfte den Männern und Frauen auf der linken Seite, die vor langer Zeit, vor allem von feministischen Schriftstellerinnen, gelernt haben, auf essentialistische Argumente zu verzichten, unan­genehm sein. Zeigt die lange Geschichte der Intervention in Mittelamerika den wesentlichen Charakter der Vereinigten Staaten? Haben Staaten wirklich ein Wesen?