Walter Lübckes Mörder und der Verfassungsschutz

Neonazi durch und durch

Der mutmaßliche Mörder von Walter Lübcke soll im vergangenen Jahr am »Trauermarsch« der AfD in Chemnitz teilgenommen haben. Die neuen Enthüllungen stärken Zweifel an den bisherigen Darstellungen der Behörden, was die Vorgeschichte des Tatverdächtigen angeht.

In Rosbach vor der Höhe, einer kleinen Stadt in Hessen, wird es wohl bald ­einen Dr.-Walter-Lübcke-Platz geben. Wie die Wetterauer Zeitung zu Beginn der vergangenen Woche berichtete, haben vier Fraktionen gemeinsam einen entsprechenden Antrag in die Stadtverordnetenversammlung eingebracht – CDU, Grüne und zwei lokale Wähler­gemeinschaften. Es gilt als wahrscheinlich, dass der Antrag angenommen wird. Während diese Meldung über Rosbach hinaus kaum Beachtung fand, sorgte der Mordfall Walter Lübcke zuletzt auch überregional für Aufsehen.

Die antifaschistische Rechercheplattform Exif berichtete am Donnerstag vergangener Woche, dass der mutmaßliche Mörder Lübckes, der Neonazi Stephan E., und dessen mutmaßlicher Helfer Markus H. am 1. September 2018 an einer AfD-Demonstration in Chemnitz teilgenommen haben sollen. Bei dieser marschierten AfD-Politiker, Neonazis, Hooligans und anderen Rechtsextreme zusammen (siehe nebenstehende Kolumne). Die Veranstalter hatten den sogenannten Trauermarsch als Reaktion auf den gewaltsamen Tod von Daniel H. am 26. August 2018 organisiert, für den dem Urteil des Landgerichts Chemnitz zufolge unter anderem ein Syrer verantwortlich war. In Chemnitz gab es nach der Tat rassistische Ausschreitungen und ­Angriffe auf Polizisten, Journalisten und Gegendemonstranten.

Was genau der Verfassungsschutz über E. weiß, ist nicht bekannt. Die ­Tageszeitung Die Welt wollte Einblick in einen geheimen Bericht des hessischen Landesamts für Verfassungsschutz über den terroristischen »National­sozialistischen Untergrund« (NSU) erhalten, was der Geheimdienst ver­weigerte. Nach einem Urteil des Verwaltungsgerichts in Wiesbaden musste die Behörde zumindest mitteilen, dass E. in der Akte elf Mal erwähnt wird. Das verstärkt den Verdacht, dass der Neonazi mit dem NSU beziehungs­weise dessen Unterstützernetzwerk in Kontakt stand.

Lübcke, der in Rosbach von 1986 bis 1999 das Institut für berufliche und ­politische Bildung leitete, dann für zehn Jahre in den hessischen Landtag wechselte und schließlich von 2009 bis 2019 als Regierungspräsident in Kassel tätig war, wurde am 2. Juni ­ermordet. Knapp zwei Wochen später nahm die Polizei E. fest. Er gestand die Tat am 25. Juni und begründete sie mit Äußerungen des CDU-Politikers auf einer Bürgerversammlung im Oktober 2015. Anfang Juli widerrief er sein Geständnis jedoch.

 

E. habe angegeben, »unter Druck gesetzt worden« zu sein und wegen eines verabreichten Arzneistoffs nicht vernehmungsfähig gewesen zu sein, heißt es in einem Beschluss des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 22. August. Die erste dieser Behauptungen habe er allerdings »nicht aufrechterhalten«. Zudem habe die ihn behandelnde Anstaltsärztin ausgeschlossen, dass E. bei der Vernehmung am 25. Juni beeinträchtigt gewesen war. Der BGH kam daher zu dem Schluss, dass es »im derzeitigen Ermittlungsstadium« keinen Anlass gebe, »an dem Wahrheitsgehalt der Einlassung zu zweifeln«. Anlass für den BGH-Beschluss war eine Beschwerde von Markus H., der der Beihilfe zum Mord beschuldigt wird, gegen den ihn betreffenden Haftbefehl und die daraus resultierende Untersuchungshaft. H. soll E. den Kontakt zu einem Waffenhändler vermittelt haben.

Mittlerweile mehren sich die Anzeichen, dass die deutschen Behörden ­unterschätzt haben, wie gefährlich E. war. So soll er am 6. Januar 2016 versucht haben, »einen irakischen Asylbewerber heimtückisch und aus niedrigen Beweggründen zu töten«. Das schrieb die Bundesanwaltschaft in einer Pressemitteilung vom 19. September. Weiter heißt es, »E. soll sich dem Opfer unbemerkt von hinten genähert und ihm dann unvermittelt mit einem Messer in den oberen Rücken gestochen haben. Durch den Stich erlitt der Geschädigte erhebliche Verletzungen, die eine intensivmedizinische Behandlung notwendig gemacht haben.« Es bestehe daher der Anfangsverdacht des versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung. Die Bundesanwaltschaft hat das entsprechende Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Kassel übernommen.

Bereits im November 1992 hatte E. einen Mann, bei dem es sich seiner Meinung nach um einen Ausländer handelte, mit einem Messer lebensgefährlich verletzt. E. war außerdem an einer Brandstiftung, einem Bombenanschlag auf eine Asylunterkunft, einem gemeinschaftlichen Totschlag und einem Angriff von Neonazis auf eine DGB-Kundgebung sowie weiteren Straftaten beteiligt. Zudem verfügte er über zahlreiche Verbindungen zu organisierten Neonazis. Der hessische Verfassungsschutz stufte ihn bis 2009 als gefährlich ein. Danach wurde er von den Behörden offenbar nicht mehr beobachtet. Nach Recherchen von Welt, Taz und dem NDR-Magazin »Panorama« war E. aber mindestens noch bis 2011 Mitglied in rechtsextremen Gruppen wie der »Artgemeinschaft – Germanische Glaubensgemeinschaft wesensgemäßer ­Lebensgestaltung« und »Freier Widerstand Kassel«. E. sei »ein durch und durch gewalttätiger Neonazi, der jederzeit für die Behörden greifbar« gewesen sei, hieß es in dem Bericht von Exif. Es müsse geklärt werden, ob die Verfassungsschutzämter »die Öffentlichkeit und Politik erneut bewusst desinformiert haben oder wie es sein kann, dass sie bei dem immensen Personal- und Geldaufkommen die Aktivitäten« von E. und H. nicht beobachteten.

Für Rechtsextreme hat der Mord an Lübcke offenbar Vorbildcharakter. Immer wieder erhalten Journalisten und Politiker entsprechende Drohungen. Erst vergangene Woche beispielsweise bekam Mike Mohring, der Landesvorsitzende der CDU in Thüringen, nach ­Angaben seiner Partei eine Postkarte, auf der stand, dass Mohring nach Lübcke die »Nummer zwei« sei, die »demnächst einen Kopfschuss« erhalten werde. Auch gegen Lübcke hatte es vor dem tödlichen Attentat in E-Mails und auf sozialen Netzwerken immer wieder Morddrohungen gegeben.