Imprint - Im Vorraum. Lebenswelten Kritischer Theorie um 1969

Unbegrenzte Zumutbarkeiten

Der Philosoph Ulrich Sonnemann gehörte nie zum Institut für Sozialforschung, stand aber nicht nur mit dessen Mitgliedern in Kontakt, sondern nahm ähnliche Positionen wie die Kritische Theorie ein. Seine Kritik an der deutschen Ideologie lässt sich dabei besonders gut mit Blick auf seine Exilerfahrung in den USA während des Nationalsozialismus begreifen.

»Ich habe mich in Amerika von Anfang an nicht in der Fremde gefühlt. New York ist eine Zusammenfassung Europas und noch gar nicht so sehr Amerika. Nachdem das Schiff die offene See gewonnen hatte, wurden erstmal alle seekrank, ich nicht, ich werde bei hohem Seegang euphorisch. Es ging sehr langsam über den Ozean. In New York war eine Riesenmenge in unserer Erwartung versammelt. Noch bevor das Schiff angelegt hatte, riefen uns die Menschen zu: ›How do you like America?‹ Und so ging’s dann weiter. Ich kann nicht sagen, daß ich mich in dem Land fremd fühlte.«
Ulrich Sonnemann

Als Ulrich Sonnemann 1974 an der kurz zuvor gegründeten Gesamthochschule (heute: Universität) Kassel eine Professur für Sozialphilosophie antritt – die erste, die über eine Gasttätigkeit hinausgeht –, ist er bereits 62 Jahre alt. Seine Laufbahn bis hierher war alles andere als gradlinig, ebenso sein Weg in die Kritische Theorie. Als antifaschistischer und jüdischer Emigrant verließ er 1933 das nationalsozialistische Deutschland Richtung Schweiz, wurde, da er sich 1940 in Belgien befand, mit ­Beginn der deutschen Westoffensive interniert und nach Frankreich gebracht, zuletzt in das Lager Gurs, aus dem ihm 1941 die Flucht und daraufhin die Emigration in die Vereinigten Staaten gelang. Dort in diversen Positionen als Psychologe und Gastprofessor für Psychologie tätig gewesen, kehrte Sonnemann 1955 nach Deutschland zurück und erst zu diesem Zeitpunkt wandte er sich von der phänomenologisch geprägten, therapeutischen Daseinsanalyse ab und der von Theodor W. Adorno, Max Horkheimer und anderen geprägten Gesellschaftstheorie zu. Seiner 1969 erschienenen »Negativen Anthropologie« lässt sich entnehmen, durch welche Gedankengänge und wissenschaftlichen sowie gesellschaftlichen Erfahrungen er konsequent zu dieser Position gefunden hatte, auch ohne direkten Kontakt zu den Mitgliedern des Instituts für Sozialforschung (IfS) bis 1957.

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