Der neue Stalin-Kult in Russland

»Die Geschichte wird umgeschrieben«

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Interview Von

Dazu kommt frappierende Ignoranz in sozialen Fragen. Es fällt auf, dass heutzutage viel über Stalin und dessen vermeintliche Größe gesprochen wird, wenig jedoch über den Kommunismus oder Sozialismus als solchen und dessen materielle Basis.
Es wird durchaus über den Verfall der Industrie debattiert. Bei uns ist kein Wirtschaftswunder in dem Ausmaß eingetreten, dass es das Andenken an die Sowjetunion komplett hätte auslöschen können. Unsere Provinz sieht immer noch so aus wie zu Sowjetzeiten. Lässt man mal die Großstädte und ­deren herausgeputzte Zentren beiseite, ist die Umgebung vieler Menschen i­mmer noch geprägt durch Möbel von damals, durch einen Alltag ohne Komfort. Das ist unattraktiv. Anders als Donald Trump in den USA können wir nicht auf schöne Lebenswelten einer Mittelklasse in den fünfziger Jahren mit ihren adretten Hausfrauen verweisen. Bei uns haben die Frauen schwer geschuftet. Als goldenes Zeitalter lässt sich das kaum verkaufen. Eben deshalb wird so viel über den Krieg gesprochen, denn der Krieg erklärt und überdeckt alles.

Was ist mit den sozialen Errungenschaften?
Die gab es. Bildung, ein kostenloses ­Gesundheitswesen, gute Ärzte, aber die heutige Staatsbürokratie demontiert dieses System. Wer glaubt, wir hätten es heute mit einem rollback zu tun, irrt. Wir sind keineswegs zum sowjetischen Diskurs zurückgekehrt. Es entsteht ein Staatskapitalismus mit nationalistischem Antlitz, der Almosen verteilt, aber nicht sozial ausgerichtet ist. »Alles für das Volk« – dieses Motto nutzen selbst die Kommunisten nicht mehr. Auch wenn sie bisweilen kundtun, das Regime unter Stalin sei sozial geprägt gewesen, so ist es doch schwierig, die Menschen davon zu überzeugen, dass die Lebensbedingungen damals besser waren.

Wie steht es um die Anerkennung der Opfer des Stalinismus?
Anerkannte Opfer politischer Repressionen haben Anspruch auf diverse Vergünstigungen. Dabei handelt es sich hauptsächlich um deren mittlerweile 90jährige Kinder. Aber die staatlichen Sozialleistungen fallen sehr bescheiden aus. Biologisch löst sich das Problem innerhalb der kommenden fünf Jahre. Dann gibt es niemanden mehr, dem der Staat etwas schuldig ist. Im Vordergrund muss heute die konsequente Öffnung aller Archive stehen und eine Erinnerungspolitik mit Breitenwirkung.

Einerseits fördert der Staat die Aufarbeitung der Vergangenheit, ­andererseits greift er zu repressiven Maßnahmen gegen Memorial. Was bedeutet das?
Der autoritäre Staat ist besessen von der Idee totaler Kontrolle. Nichtstaatliche Akteure lassen sich nicht so einfach kontrollieren – das macht den Staat ­wütend, und nicht etwaige nonkonforme Darstellungen. Dass die Vergangenheit heutzutage im öffentlichen Interesse einen so hohen Stellenwert ­genießt – was für Memorial durchaus von Vorteil ist – , deutet auch auf die Angst der Menschen vor der Wiederholung der Geschichte hin. Insofern ist die Rehabilitierung Stalins ein Warn­signal. In der Nach-Stalin-Ära, bei all ­ihren Schrecken, war bekannt, dass Folter nicht mehr angewendet wird. Heute weiß jeder, dass man nach der Ein­lieferung auf die Polizeiwache auf Folter gefasst sein muss. Das wirft uns auf schreckliche Erfahrungen aus der Stalin-Zeit zurück. Für mich persönlich ist ­eines der schrecklichsten Signale, dass die Anwendung von Folter wieder möglich geworden ist.