Anarchistenhochburg in Athen

Exarchia soll sauber werden

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Hohe Mieten, viele Drogen

Auch Ahrend muss hier ab und an dealen, er braucht Geld für Essen, Trinken und Tabletten. Er habe sich vor­genommen, sein Leben auf der Straße zu beenden – doch er kämpfte jeden Tag ums Überleben, erzählt er. Er sei aus Algerien nach Europa gekommen und bereits einige Jahre in Deutschland gewesen. Noch während seines laufenden Asylverfahrens habe er dort wegen Drogenschmuggels im Gefängnis gesessen. Nach zehn Monaten sei er im Mai 2018 nach Algerien abgeschoben worden. Dort wollte er nicht bleiben. Zum einen, weil der algerische Staat ihn gleich nach seiner Ankunft zum Militärdienst einziehen wollte, den er noch nicht geleistet hatte. Zum anderen, weil er sich dort nicht mehr zugehörig gefühlt habe. Sechs Jahre hatte er bereits in Europa gelebt. In Deutschland habe man ihn immer den Algerier genannt, in Algerien nur den Deutschen.

Die Feindbilder der Autonomen in Exarchia: Touristen und Polizisten.

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Michael Trammer

Seit einigen Monaten sei er nun bereits in Athen. Er habe sich allein zu Fuß von Istanbul hierher durchgeschlagen. Mit dem Gitarrespielen verdiene er nicht einmal genug zum Essen, daher deale er manchmal. Dann sitze er den ganzen Tag am Straßenrand und warte, bis ihn jemand nach Gras fragt. Er schäme sich, aktiv seine Ware anzubieten, er wolle nicht als einer der Drogendealer des Platzes angesehen werden. Doch an den Tagen, an denen er dealt, gehört er zu dieser Gruppe. Vor allem nachts kommt es rund um den Platz immer wieder zu Schlägereien, auch zu Messerstechereien. Um sich zu schützen, sagt Ahrend, habe er immer einen Schraubenzieher bei sich – Messer möge er nicht. »Das Leben auf der Straße ist hart. Man muss beweisen, dass man stark ist.«

Wenn die Auseinandersetzungen zwischen den Dealern eskalieren, intervenieren manchmal Autonome. Auch gegen die steigenden Mietpreise, den Ausverkauf des Viertels und die Vermietung von Ferienwohnungen über Airbnb richten sich Aktionen einiger Gruppen. Im Internet finden sich Bilder von Nägeln in Türschlössern und Anti-Airbnb-Graffiti in Haus­eingängen. An einer Wand im Viertel prangt eine stilisierte Karte, darunter steht »Airbnb burn«.

14. September: Ein Zusammenschluss zahlreicher besetzter Häuser und po­litischer Gruppen ruft zu einer Großdemonstration gegen Räumungen und staatliche Repression auf. Es kommen Tausende Demonstrierende, der Zug verläuft äußerst friedlich. Später greifen einige Personen jedoch die Polizei in Exarchia an. In kürzester Zeit tauchen zahlreiche MAT-Einheiten auf, setzen Ummengen an Tränengas ein und ersticken Ausschreitungen im Keim.

Gegen Repression und Verdrängung. Demonstration am 14. September.

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Michael Trammer

Auch Ahrend ist während der Zusammenstöße im Viertel. Er nimmt das alles wahr, doch es zieht an ihm vorbei. Er hält sich am Rand und beobachtet. Nachdem sich die Stimmung beruhigt hat, setzt er sich mit Bekannten an die Themistokleous-Straße. Für ihn geht nur ein weiterer Tag zu Ende.

In Exarchia wolle er einfach in Ruhe leben, sagt Ahrend. Immer wieder spricht er von den Schwierigkeiten seines Alltags. Wie viele andere nimmt er Lyrica, bis zu 60 Tabletten an manchen Tagen. Süchtig sei er nicht, behauptet er. Doch das Antiepileptikum mit dem Wirkstoff Pregabalin hat der deutschen Apothekervereinigung zufolge ein hohes Suchtpotential. 60 Tabletten in einer Dosierung von 150 Milligramm entsprechen 9 000 Milligramm des Wirkstoffs, die von Medizinern empfohlene Tageshöchstdosis liegt bei 600 Milligramm. Ahrend redet sehr offen über seinen Konsum. Er erzählt von der euphorisierenden Wirkung und auch von Erinnerungslücken, die die Tabletten verursachen. So sei er vor kurzem in einer Polizeiwache aufgewacht. Sein Gras sei weg gewessen und er habe sich an nichts erinnern können. Was von dieser Nacht bleibt: Die Reste einer Wunde auf seiner Stirn, die sicher eine Narbe hinterlassen wird. Vielleicht stammt sie von ­einem Schlagstock, vielleicht von einem Sturz – er wisse nur noch, dass er die Konfrontation mit der MAT am Rand des Bezirk gesucht habe. Großes Glück sei es gewesen, dass sie ihn laufen ­gelassen haben, sagt er.

* Name von der Redaktion geändert.


Mittlerweile sitzt Ahrend in Griechenland im Gefängnis. Die Umstände seiner Verhaftung sind unklar. Als letztes meldete er sich bei unserem Autor mit den Worten »Ich bin verhaftet. .... 8 yrs.« (Stand 11. November 2019)