Regionale Ungleicheiten in Europa

Wer hat, dem wird gegeben

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Tatsächlich nehmen Re­gionen, in denen die meisten Menschen in der Wissenschaft oder der Technologiebranche beschäftigt sind, die meisten Arbeitsmigranten auf: Deutschland, Österreich, Norditalien, Skan­dinavien, Großbritannien, Südfrankreich. In wirtschaftlich schwächelnden Regionen ist die Bevölkerung tenden­ziell älter, ungebildeter, oft auch mehrheitlich männlich, vor allem aber schrumpft sie.

Denn auch die rapide Überalterung Europas stellt sich geographisch sehr ungleich dar: In vielen wohlhabenden Regionen wächst die Bevölkerung, während einige ländliche Regionen in der Peripherie geradezu aussterben oder vergreisen, sei es im Baltikum, in Spanien, Griechenland, Süditalien, Kroatien, Ostdeutschland oder einigen Regionen Frankreichs.

Die Migration innerhalb Europas ist ein Produkt des internen Wohlstands­gefälles. Ein Phänomen der vergangenen Jahre war die Abwanderung der jungen Generation aus Südeuropa. Doch auch aus Osteuropa ziehen immer mehr junge Menschen weg. Die Bevölkerung Rumäniens ist im vergangenen Jahrzehnt um fünf Prozent geschrumpft, die von Litauen um fast zehn Prozent, und auf den EU-Beitritt Kroatiens 2013 folgte ein Bevölkerungsrückgang von über 200 000 Menschen – fast fünf Prozent der Bevölkerung in sechs Jahren.

Die Abwanderung war so stark, dass vor allem Polen und Ungarn inzwischen ein großes Problem mit dem Arbeitskräftemangel haben. Obwohl dort die Furcht vor außereuropäischer Einwanderung die öffentlichen Debatten bestimmt, sorgen sich, so das Ergebnis einer Umfrage des European Council on Foreign Relations, viele Länder – Rumänien, Ungarn, Spanien, Italien, Griechenland und andere – eher um die Folgen der Abwanderung als um die der Zuwanderung. Vor einem Jahr erregte der rumänische Finanzminister Eugen Teodorovici Aufsehen, als er sogar die zeitliche Beschränkung der Freizügigkeit vorschlug, damit Emigranten wieder in ihre Heimat zurückkehren müssen.

Dabei ist die Situation der Staaten, die in die EU aufgenommen wurden, noch vergleichsweise günstig. Düsterer sieht es in der vom Krieg gezeichneten Ukraine aus. Millionen Bürger haben das Land verlassen, um in Polen oder Russland Arbeit zu suchen. Schlecht ist die Lage auch in Nordafrika, wo die arbeitslose Jugend vor den verschlossenen ­Toren Europas steht; oder auf dem Westbalkan, wo vielerorts die Hoffnung schwindet, jemals in demokratischen und prosperierenden Gesellschaften zu ­leben.

Der bulgarische Politologe Ivan Krăstev stellte die These auf, die Stärke illiberaler Kräfte in Mitteleuropa sei eine Folge der »demographischen Ängste, die die Emigration dort hinterlassen hat«. Nur so sei zu erklären, dass dort rechte Parteien am stärksten seien, wo es »den größten Ausfluss an Bevölkerung« gegeben habe.

Jedenfalls erscheint es plausibel, dass die politischen Spannungen, die Europa zur Zeit kennzeichnen – zwischen liberalen und nationalistsichen Kräften, kosmopolitischen und provinziellen Tendenzen – auch mit der ökonomischen Polarisierung zu tun haben, bei der das Hinterland verkümmert, während die dynamischen Ballungszentren prosperieren. Scharfe Konflikte dürften so programmiert sein.