Die Türkei nach dem Einmarsch in Syrien

Im Siegesrausch

In der Türkei wird der Einmarsch in Nordostsyrien und das Abkommen mit den USA weiter als großer Sieg gefeiert. Dabei ist völlig unklar, was dieses Abkommen eigentlich bedeutet. Fünf Notizen.

EINS

Kaum erging gestern Abend kurz vor 21 Uhr die Nachricht über die amerikanisch-türkische Vereinbarung zum vorübergehenden Waffenstillstand, da deklarierte die regierungsnahe Presse einstimmig einen großen Triumph.

In der Tageszeitung Star hieß es im Titel der heutigen Ausgabe stellvertretend: „Erdogan blieb standhaft. Der Westen geht in die Knie. In der Sicherheitszone erringt die Türkei einen großen Sieg“.

Yeni Birlik kam dem boulevardesken Schwesternblatt nach, und verkündete mit geschwollener Brust: „Wir haben bekommen, was wir wollten“. Nur Yeni Safak konnte da noch mithalten: „Die Türkei hat alles bekommen, was sie wollte. Ein großer Triumph. Die Operation Quelle des Friedens hat die Hand der Türkei gestärkt. Den USA wurde die Sicherheitszone aufgenötigt“.

Die säkular-kemalistischen Blätter, sonst auf Opposition bedacht, waren kaum unterscheidbar von ihren Konkurrenzblättern und konsensuell in der Grundhaltung.

Andere Blätter, mit weit weniger Auflage, aber in der Gesinnung kampferprobt wie die Zeitung Aksam titelten: „Eine Frist von 120 Stunden für die USA“. Die linksnationalistische Tageszeitung Aydinlik blühte auf:„Türkei erteilt USA eine Frist von 120 Stunden“. Die islamistische Tageszeitung Milat fasste sich kurz: „Die USA werden ihre Terroristen zurückziehen“. Und die radikal-islamistische Yeni Akit spekulierte auf Auflagensteigerung: „Die von den USA verratene YPG/PKK packt die geheimen Machenschaften der USA aus. Johnnys Esel weinen.“

Die säkular-kemalistischen Blätter, sonst auf Opposition bedacht, waren kaum unterscheidbar von ihren Konkurrenzblättern und konsensuell in der Grundhaltung. „Yurt“ scherzte: „Der letzte Tango der USA in Ankara.“

 

t

Die nationalistisch-kemalistische Sözcü, die auflagenstärkste türkische Tageszeitung sprach für das gesamte türkische Volk und veröffentlichte ein Schreiben an Trump im Namen des Volkes: „82 Millionen antworten Trump. Komm, lass uns über die Wahrheit reden! Die Türkei kämpft seit Jahren gegen die von euch aufgepäppelte Terrororganisation PKK. Mit Stolz starben die Söhne des Vaterlandes im Heldentod. Wir haben mit euch immer in einer Sprache, die ihr versteht gesprochen. Wir wollen keinen Terrorstaat an unserer Grenze. Aber ihr habt total kindisch nicht verstehen wollen. Ihr habt für eure dreckigen Interessen im Nahen Osten Brandherde gelegt, die Völker des Nahen Ostens aufeinander gehetzt. Es hat euch nicht gereicht, die Putschisten um Fetullah in Schutz zu nehmen. Ihr habt auch noch an unserer Grenze einen Terrorstaat errichten wollen. Der YPG, dem verlängerten Arm der PKK habt ihr zehntausende, mit Waffen beladene LKWs gegeben. Sowohl hinter ISIS als auch der PKK steckt ihr“.


ZWEI

An der türkisch-syrischen Grenze ist die gut aufgestellte türkische Propagandamaschine seit Beginn der „Operation Quelle des Friedens“ anders als sonst schwer konzentriert bei der Arbeit. Es herrscht Krieg. Man will dabei sein und mutiert zum Frontreporter, auch wenn der eigene Gefechtsstand nachweislich weit von der tatsächlichen Front liegt. Manch Reporter macht dabei Faxen; andere rennen vor laufender Kamera hysterisch weg, im Glauben, im Visier eines kurdischen Scharfschützen zu sein. Die Angst packt den Türken am Ende doch. Angstfreiheit ist nämlich bloß ein irrationaler Wunsch, an dessen Verwirklichung in Wirklichkeit niemand glaubt.

Es gibt keine Opposition mehr, denn es herrscht Kriegszustand.


Zur Propagandamaschine zählt in kriegslüsternen Zeiten wie diesen auch die Sendeanstalt Habertürk, die sonst anders als das Staatsfernsehen auf halbwegs noch annehmbare Ausgewogenheit setzt, was im türkischen Kontext allerdings lediglich bedeutet, die Vertreter der koalierenden Fraktionen innerhalb des Erdogan-Lagers mit Oppositionellen in ein personell unausgeglichenes Wortgefecht zu verleiten. Allabendlich treffen sich die Herren in bekannter Runde und geben auswendig gelernte Stellungnahmen ab, sprechen also nicht für sich, sondern für irgendeine der dominanten Fraktionen, die sie vertreten.

Nahezu durchgehend – also fast stündlich – ändert sich die türkische Lagebeurteilung jedoch dieser Tage. Es gibt keine Opposition mehr, denn es herrscht Kriegszustand. Und da gibt es nur noch Türken, die geräuschvoll Einigkeit und Geschlossenheit demonstrieren wollen. Folglich bricht in diesen Tagen nicht wie sonst ein Streit untereinander aus, sondern der Hass auf Amerikaner, Kurden oder Verräter bahnt sich an und bricht unkontrolliert durch.

Darum will niemand die gut dotierte Stellung als Sprechapparat in den Sendeanstalten riskieren und kann die persönliche Note lediglich durch besonders affektierte Geste hervorheben. Im Zweifel reicht das in solchen Kreisen beliebte Stilmittel der permanenten Überbietung. Denn Propagandaarbeit wird gut dotiert.

Tatsächlich gelingt solchen Fernsehformaten die Inszenierung einer irgendwie gearteten demokratischen Streitkultur oder was man für eine Streitkultur hält.

Schließlich soll das Schönreden, Bagatellisieren und Verkünden von frohen Botschaften sich auszahlen. Kriegspropaganda ist schließlich Dienst am Vaterland. Entsprechend herrscht allgemeine Lethargie, panische Zurückhaltung und die Experten spiegeln lediglich die Koalitionäre um Recep Tayyip Erdogan wider, die sich nur in ihrem Grad an Hass auf Amerikaner, Kurden und Vaterlandsverräter unterscheiden. Dabei ist im Portfolio dieser Sprechapparate, und wofür sie auch in die Sendungen kutschiert werden stets inklusive die aggressive Identifikation mit Volk und Vaterland; konstitutive Relevanz hat die Produktion von Feindbildern und Verschwörungen; erwartet wird völlige Schamlosigkeit und mangelhafte Selbstkontrolle. Dies sind die Einbestellungsvoraussetzungen der türkischen Talkshowgäste.

Anders als durchgehend im Westen allerdings wahrgenommen, ist die Fraktionierung um Erdogan heute entscheidend wichtiger für die innere Konstitution der türkischen Gesellschaft als die Selbstdarstellung nach außen als Führerstaat. Tatsächlich gelingt solchen Fernsehformaten die Inszenierung einer irgendwie gearteten demokratischen Streitkultur oder was man für eine Streitkultur hält. Die konnotierte Identifikation mit dem jeweiligen Sprechort allerdings sorgt dafür, dass die abendfüllenden Programme, die mehrere Stunden dauern, mehr einer aggressiv vorgetragenen Entleerungsfunktion gleichen denn einer halbwegs annehmbaren Erkenntnisproduktion. Dies wäre auch zu viel der Hoffnung. Wer türkische Fernsehsendungen verfolgt, wird notwendigerweise das akute Bewusstsein eines starken Schamaffekts bei sich spüren. Denn die Talkshowgäste sind stets Anhänger irgendeiner politischen Sekte und fallen durch eine komische Art der aggregierten Fetischisierung im Entfalten der eigenen Neigungen auf. So tragen die Propagandisten zur Vervollständigung einer aggressiv aufgeladenen Stereotypisierung bei, die nur mit äußersten Verzerrungen funktioniert. In der Regel finden folgende Vertreter aktuell immer Platz im Sendeformat, wobei die Namen belanglos bleiben und die Gäste in verändernder Formierung durch spezifische Feindbildproduktion auftreten, also untereinander durchaus unterscheidbar durch folgende Zuspitzungen bleiben.

Seit Jahren herrscht die Vorstellung, man könne durch militärisches Aufgebot Fakten schaffen, und die Diplomatie der Aktion nachstellen.



Die Parteigänger Erdogans fallen durch wiederholte persönliche Angriffe gegen Assad auf. Sie bleiben erkennbar durch bedeutungsschwangere Stimuli, die die Formen der Bewertung und Belohnung durchexerzieren. Stringent betont wird dabei die humanitär verkleidete Profistrategie im Errichten einer türkischen Sicherheitszone; die Artikulation variabler Akte des Defäkierens in den Frontkämpfen gegen „Ungeziefer“; die stereotype Sichtweise auf Amerikaner, Kurden und Westler. Es kann einem kaum bei diesen Charaktermasken entgehen, wie sehr diese Parteigänger ein Kampf mit sich selbst führen. Dabei wird beharrlich mit äußerster Raffinesse der Kampf um das persönliche Überleben als der schicksalsträchtige Überlebenskampf der türkischen Nation inszeniert.

Den koalierenden Eurasiern geht es inzwischen aber um mehr – das Staatswohl und das Überleben des Türkentums als Staat über Erdogan hinaus. Entsprechend wird seit spätestens 2016 eine pro-russische Haltung im Staatsapparat etabliert, dessen Propagandisten einen strikt maoistisch-nationalistisch-turkistischen Anti-Amerikanismus von sich geben. Vertreten wird diese Fraktion durch ehemalige Generäle , Geheimdienstler und Funktionäre der Vaterlandspartei um Dogu Perincek. Sie sind stets adrett gekleidet, fallen durch eloquenten Sprachstil auf und referieren gerne minutenlang an Wandtafeln und Feldkarten über Taktik und Strategie, ohne auch nur darauf zu achten, überhaupt Zuhörer zu gewinnen.

Das bisher deutlich erkennbare militärische Desaster hat sich inzwischen um das diplomatische Desaster erweitert.
 

Intellektuell bescheidener treten die Vertreter des faschistisch-nationalistischen Blocks auf. In ihrer Rhetorik fallen sie durch vereinnahmende Rituale auf, trotzig-stolz ist in ihren Gesichtern die sadistische Lust erkennbar. Zumeist geben sie offensichtlich blödes Zeugs von sich, mit betont vulgären Ausdrücken, die Schwächen in der türkischen Schriftsprache offenlegen.


DREI

Folglich wird seit Beginn des Einmarsches in Rojava versucht, das Ungeheuerliche ins Akzeptable zu übersetzen. Das Problem dabei ist: Das bisher deutlich erkennbare militärische Desaster hat sich inzwischen um das diplomatische Desaster erweitert.

Das hat seine Gründe. Seit Jahren herrscht die Vorstellung, man könne durch militärisches Aufgebot Fakten schaffen, und die Diplomatie der Aktion nachstellen. Entsprechend fehlt es an fähigem Personal. Diplomaten werden nach Gutdünken und Kalkül ausgesucht, und nicht nach Können oder Geschick. Es mangelt an Personal, das Verhandlungen führt, Strategien erarbeitet, Konfliktmanagement betreibt.

Bei Habertürk folgt entsprechend nach der gestrigen Pressekonferenz von Pence und Pompeo als auch im Anschluss eine eigene vom türkischem Außenminister Cavusoglu ein Herumlavieren. Im Kern deuteten nämlich die Pressekonferenzen eher darauf hin, sich nicht wirklich geeinigt zu haben, aber Handlungswille zu demonstrieren.

Während Pence und Pompeo eine Waffenruhe verkünden, dementiert Cavusoglu und spricht lediglich vom Pausieren. Einig sind sich beide allerdings mit einer Ruhe bzw. Pause von 120 Stunden.

Was in diesen 120 Stunden passiert, ist aber völlig unklar.

Cavusoglu verkündet, die YPG müsse sich 32km zurückziehen, ihre Waffenabgeben.

Pence spricht lediglich vom Rückzug auf eine nicht näher genannte und begrenzte Region von 20 Meilen. Es bleibt offen, in welcher Ausdehnung von West nach Ost.

Pence verkündet, die Türken ziehen sich aus Syrien raus, sobald die YPG abrückt. Dann erfolgten keine weiteren Sanktionen und die bisherigen würden zurückgenommen.

Cavusoglu dementiert und verkündet, die "freigeräumte Sicherheitszone" werde von den türkischen Streitkräften kontrolliert.

Pence sagt, die Türken werden nicht in Kobane einmarschieren.

Cavusoglu dementiert und behält sich ein Einmarsch auch dort vor.

VIER

Bei all dem frivol als Erfolg gefeierten Deal bleiben Fragen.

Wie verhält sich die SDF? Wie Assad? Und wie Russland?

Das ist insofern auch entscheidend, dass die USA mit ihrem angekündigten Abzug aus Syrien das Feld Russland und Assad überlässt. und die verbündete SDF fallen lässt. Entsprechend wird vieles vom am 22. Oktober geplanten Treffen zwischen Erdogan und Putin abhängen.

Die PKK und auch die PYD gelten in Russland nicht als Terrororganisationen
 

Dabei könnte Trumps Vorstoß ein gewagter Versuch sein, das russisch-türkische Verhältnis auf Probe zu stellen. Die Ambitionen Russlands sind nämlich offensichtlich: Die Türkei ist als NATO-Mitglied leicht aufgreifbar und jeder Versuch, die Türkei von der NATO und die NATO von der Türkei zu entfremden, ist ein wichtiger Punktsieg für Russland. Entsprechend deutet vieles bereits jetzt darauf hin, dass nun Russland durch den amerikanischen Abzug in Zugzwang gerät und nun zwischen Assad, der Türkei und der SDF justieren muss. Konfliktfrei wird dies nicht erfolgen, so viel ist sicher. So gilt die PKK und auch die PYD in Russland nicht als eine Terrororganisation und überhaupt ist die russische Position zu Syrien deutlich. Für Russland hat die Integrität des syrischen Staates oberste Priorität und jede Intervention und Anwesenheit ausländischer Streitkräfte wird abgelehnt. Die PYD gilt für Russland als Teil Syriens und somit dürfte der Dissens zwischen Russland und der Türkei nicht deutlicher zum Ausdruck kommen als in der Einschätzung der PKK bzw. PYD.

Assad selbst ist auf Russland als Schutzmacht noch dringlicher angewiesen als zuvor. Es verwundert darum kaum, dass Russland auf ein Abkommen zwischen der Türkei und Syrien aus dem Jahre 1998 verweist, dem Adana-Abkommen. Dieses erfolgte noch unter Assad Senior und bezweckte die gegenseitige Verpflichtung, jeglichen Terrororganisationen den Kampf anzusagen. Vordergründig war damit die bis in die späten 1990er in Syrien präsente PKK gemeint, beschränkte sich aber im Wortlaut nicht auf allein auf sie.

Mit diesem Abkommen sicherte sich die Türkei jener Jahre den dann im Februar 1999 erfolgten Zugriff auf Abdullah Öcalan, der nach diesem Abkommen sich gezwungen sah, Syrien zu verlassen. In den Folgejahren geriet dieses Abkommen in Vergessenheit und erlebt heute ein Revival, wobei die türkische Seite darauf pocht, das eigene Eingreifen in Syrien mit diesem Abkommen zu rechtfertigen. Allerdings gewährt dieses Abkommen lediglich das Einmarschieren in syrische Hoheit bis zu einer Grenze von neun Kilometern, und auch nur, wenn ein Angriff aus Syrien erfolgt. Syrien selbst wird mit diesem Abkommen mithilfe Russlands sehr wahrscheinlich darauf drängen, auf unter anderem die türkische Präsenz im umkämpften Idlib hinzuweisen und versuchen, den türkischen Einfluß in Syrien überhaupt abzustellen.

Sowohl Russland als auch die USA brauchen die Türkei


Die SDF hat unverzüglich ihre Zustimmung zum Waffenstillstand mitgeteilt, gleichwohl diese Zustimmung lediglich auf das bereits verlorene Gebiet zwischen Tal Abyad-Rasulayn-M4 (90km X 30km) beschränkt wird. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass ein vollständiger Abzug aus der von der Türkei beanspruchten Zone erfolgt.

 FÜNF

Erdogan kann sich vorerst als ein Gewinner präsentieren, und für sich in Anspruch nehmen, den US-Amerikanern zumindest auf dem Papier die eigenen Forderungen nahezu vollständig abgerungen zu haben. Dennoch dürfte durch den Abzug der USA klar geworden sein, dass nun Russland über weite Teile der beanspruchten Zone das Machtwort sprechen wird und mit Sicherheit nicht ohne weiteres ein gewünschtes Entgegenkommen anbieten wird.

Bislang ging nämlich die türkische Taktik – das Ausspielen der Konkurrenten USA und Russland auf, die untereinander um die türkische Gunst buhlen. Sowohl Russland als auch die USA brauchen die Türkei; umgekehrt gilt dies auch für die Türkei, die bislang nur durch taktisches Ausspielen die eigenen Interessen durchsetzen konnte. Damit dürfte aber Schluss sein. Der Abzug der USA aus Syrien wird wahrscheinlich zu einer wie auch immer gearteten Abkehr von Russland führen; zumindest sollte schon bald klar werden, dass Russland eine türkische Expansion in Syrien, geschweige denn eine dauerhafte Präsenz der Türken in Nordsyrien nicht akzeptieren wird. Wann sich Russland jedoch dazu durchringen wird, der Türkei enge Grenzen aufzuerlegen lässt sich nicht ablesen. Man scheint erst einmal vom augenblicklich eigenen Triumph überwältigt zu sein und den eigenen Sieg zu genießen.