Massenproteste in Chile

30 Pesos für 30 Jahre

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In der Tat gingen die Menschen, wie damals während der Diktatur, in ihren Vierteln auf die Straße, zündeten Barrikaden an, sangen, tanzten, schrien und stellten sich der Polizei entgegen – eine spontane Bewegung ohne Ver­treter, ohne politische Parteien, die die Forderungen formulierten. In den zentralen Straßen Santiago de Chiles, auf der Alameda, auf der Salvador ­Allende einst vorhersagte, dass hier der freie Mann wandeln werde, der Sohn einer gerechteren und brüderlichen Gesellschaft, wurde das Motto ausgegeben: »Es sind nicht 30 Pesos, es sind 30 Jahre« – in denen das Leben vom Erbe der Diktatur gepägt war.

Über eine Million Menschen demonstrierten friedlich. Die Regierung von Präsident Sebastián Piñera erklärte in einigen Regionen Chiles ­jedoch den Ausnahmezustand, überantwortete die Sicherheit Chiles der ­Armee, die eine Ausgangssperre für sechs Tage verhängte, und behauptete, es gebe einen mächtigen und organisierten Feind, dessentwegen sich das Land im Krieg befinde. Erst in der Nacht zum Montag dieser Woche hob sie den Ausnahmezustand wieder auf.

Der Einsatz der Armee auf den Straßen des Landes ließ alte Traumata wieder hochkommen und erinnerte an die Diktatur unter Augusto Pinochet (1973 bis 1990), in deren Zeit etwa 3 000 Menschen ermordet und Zehntausende gefoltert wurden. Zugleich wurden damals das neoliberale Wirtschaftsmodell durchgesetzt und eine Verfassung geschrieben, die auch die Politik der folgenden demokratischen Regierungen prägte. Marco Marín, ein Musiklehrer, der sich an den jüngsten Demonstrationen beteiligte, sagt, aus diesem Grund müsse man »den Wert junger Menschen wiederentdecken, die mit ihrer Sprache und auf ihre Weise keine Angst zu haben scheinen, auf die Straße zu gehen. Das veranlasst uns, unseren Weg und unsere eigenen Kämpfe zu hinterfragen angesichts der Zurücknahme von Rechten, die einst erobert worden waren.« Anita Sánchez, eine Einwohnerin von Villa Francia, ­einem anderen für seine Widerständigkeit bekannten Viertel in Santiago, sagt über den Widerstand: »Ich habe die strenge Diktatur erlebt, und jetzt hatte ich Angst um das Leben der jungen Menschen. Ich dachte, man würde sie alle töten, weil sie uns zum Protest mobilisierten. In diesem Moment gibt es Tote, Gefolterte und Inhaftierte, aber dennoch macht die Bevölkerung mit. Ich habe wieder Hoffnung, weil Chile aufgewacht ist.« In der Tat zählt »Chile ist aufgewacht« neben »Wir haben keine Angst mehr« und »Genug des Missbrauchs, wir wollen eine gerechte Gesellschaft« zu den Parolen der derzeitigen Proteste.