Politisch korrekte Filmkritik

Vorsicht, Realität!

Dass der Film »Joker« sexistisch ist und Gewalt verherrlicht, wussten Kritiker schon, bevor sie ihn gesehen hatten. Die gute Gesinnung will das so.

Die Filmkritik der Gegenwart könnte vielfältiger nicht sein: Mal beschäftigt sie sich filmimmanent mit rein formalen Aspekten, mal misst sie die Werke an ihrem Unterhaltungswert oder betrachtet sie ideologiekritisch. So unterschiedlich und diskussionswürdig diese Zugänge zur Filmkunst sind, gemeinsam haben sie, dass sie einzelne Werke einer fundierten Analyse unterziehen wollen. Von der immer populäreren postmodernen Filmkritik lässt sich dies nicht mehr so ohne Weiteres behaupten: Zwar will man Kritik üben, aber von einer Rezeption, die das Werk möglichst nüchtern betrachtet, wird abgesehen, wenn der Film gegen identitätspolitische Vorgaben verstößt. Beliebig einsetzbare Schemata wie etwa der Bechdel-Test dienen als Maßstab zur Bewertung. Ambivalenzen und Brüche werden oft nicht zugelassen; an ihre Stelle treten feste Standpunkte, die irritierende Erfahrungen unterbinden. Die festgelegte Ideologie bestimmt jedwede Beurteilung.

Trigger-Warnungen münden in Zensur. 

Oft tritt die Kritik die Kontroverse bereits los, ehe die geschmähten Filme das erste Mal auf die Leinwand kommen. Filmkritik macht sich damit zum Vormund des Publikums, das mit Trigger-Warnungen auf verstörende Szenen schonend vorbereitet wird. Mit »Joker« lief kürzlich ein Film an, der schon vor dem Kinostart heftigen Vorwürfen ausgesetzt war. Zahlreichen pädagogisch-mahnenden und beinahe wortgleichen Kritiken zufolge ist die Geschichte um den brutalen Lebenswandel des titelgebenden Protagonisten sexistisch, gewaltverherrlichend und könnte einige Zuschauer dazu verleiten, die gezeigte Gewalt als legitim anzuerkennen oder gar nachzuahmen. Anlass für diese Einschätzung war, dass der Film für seinen Protagonisten Sympathie erlaube, obgleich dieser zur engelsgleichen Identifikations­figur kaum tauge.

Gespiegelte Wirklichkeit.

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Niko Tavernise / Warner Bros

Wie arm das Kino wäre, wenn nur noch Filme gedreht würden, die von den Zuschauern nicht falsch interpretiert werden können, erscheint da als dringliche Frage. Die Kritik ergibt sich dem kindlichen Bedürfnis nach Erzählungen, die keinen Zweifel daran lassen, wer auf welcher Seite steht und wo sich der Zuschauer zu positionieren hat. Differenzierte Charakterstudien im Film scheinen trotz ihrer langen Tradition nur noch bedingt erwünscht. Ein Feel-Good-Movie, in dem Gut und Böse klar unterschieden sind, hätte die Gemüter sicherlich weniger erhitzt.

Bloß nicht anstecken. Hollywood-Schauspieler in den Dreißigern schützen sich vor der Grippe.

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dpa / ullstein bild

Ohne Shitstorms und empörte Reaktionen in den sozialen Medien könnte der identitätspolitische Umgang mit Kunst nicht funktionieren. Als 2018 bekannt wurde, dass die US-amerikanische Schauspielerin Scarlett Johansson einen Trans-Mann in einem biographischen Film spielen sollte – den bekannten Zuhälter Dante »Tex« Gill in Rupert Sanders' Film »Rub & Tug« –, wurde sie von identitätspolitischen Einwänden belehrt, dass sie als »Cis-Frau« nicht das Recht habe, eine Figur zu verkörpern, deren Erfahrungen sie nicht teile. Nachdem Johansson zunächst ihre Eignung für die Rolle betont hatte, nahm sie unter dem Einfluss heftiger Kritik davon Abstand und bezeichnete ihre früheren Aussagen reumütig als »unsensibel«. 

Ähnliche Argumente tauchten in der Rezeption des Films »Call Me by Your Name« von Luca Guadagnino aus dem Jahr 2017 über ein schwules Liebespaar auf: Dass die Charaktere von heterosexuellen Schauspielern verkörpert wurden, reichte hier schon aus, um den Film unabhängig von seinem Inhalt unter Verdacht zu stellen. Überraschend ist dabei, dass diese Kritik aus einem sich progressiv dünkenden Milieu stammt, das für gewöhnlich nicht im Ruf steht zu glauben, heterosexuelle Schauspieler könnten keine schwulen Figuren spielen. Das zugrundeliegende identitätspolitische Kalkül findet allerdings genau in dieser Verfestigung von Kollektividentitäten mit reaktionären Ansichten zusammen.