Jüdisches Leben und Überleben

Wir haben überlebt, lasst uns essen

Lebensbejahung im Angsicht des Todes: Wie man auf die Terroranschläge von Christchurch und Halle reagieren muss, lässt sich auch aus der jüdischen Tradition lernen.

In der Zeit zwischen der Feier des jüdischen Neujahrsfests Rosh Hashanah und dem Sühnetag Yom Kippur schickte mir ein Freund ein beliebtes Sprichwort, das im Grunde die Essenz aller jüdischen Feiertage beschreibt: »Sie haben versucht, uns zu töten, wir haben überlebt, lasst uns essen.« Das in den jüdischen Gemeinden weitverbreitete selbstironische Sprichwort bezieht sich auf den Zusammenklang von historischer Erfahrung und sozialer Praxis: Untergang, Erlösung und Lebensbe­jahung. Es erinnert prägnant und humorvoll an den Dauerzustand der Bedrohung, das Wunder des Überlebens und die Notwendigkeit der Freude. Kein Feiertag verkörpert diesen Dreiklang besser als das Pessach-Fest, zu dem die Geschichte der Sklaverei unter dem Pharao und des Exodus aus Ägypten erzählt wird. Am Ende wird die Befreiung mit einem großen Fest und vier Gläsern Wein gefeiert.

Ja, sie haben versucht, uns Jüdinnen und Juden (wieder einmal) zu töten. Und doch haben wir überlebt. Ein paar von uns tun das immer.

Doch nur wenige Tage nach der Nachricht meines Freundes, an Yom Kippur, zeigte in diesem Jahr der Angriff eines schwerbewaffneten Neonazis auf die Synagoge in Halle, dass sich das Sprichwort nicht nur auf abgeschlossene historische Ereignisse bezieht. Wie Brecht schon sagte: »Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.« Wenn im derzeitigen, von manchen »postnational« gewähnten Deutschland 25 Prozent der Bevölkerung sich einer kürzlich veröffentlichten Umfrage des Jüdischen Weltkongresses (WJC) zufolge vorstellen können, dass sich so etwas wie der Holocaust hier wiederholen könnte, dann wissen wir Jüdinnen und Juden – als das ewige Feindbild –, dass sich die Trias von Gefahr, Resilienz und Lebensbejahung gleichermaßen auf die Gegenwart bezieht. Aus dieser Situation gibt es offenbar keinen einfachen oder endgültigen Ausweg; weder liberalem Kosmopolitismus noch sozialistischem Internationalismus oder jüdischer Selbstbestimmung ihat bisher einen solchen bieten können.

Die Juden haben der Menschheit die Bibel gegeben, brachen aus dem zyklischen Zeitbild aus und bejahten Selbst- und Gesellschaftsentwicklung, anstatt der Natur zu gehorchen und sie nachzuahmen. Diese Errungenschaften wurden nacheinander von allen monotheistischen Religionen und der säkularen Kultur gleichermaßen aufgenommen, aber zum Dank hat die Welt ihre Bibliotheken mit Lügen über die Juden gefüllt.