Endspurt zum SPD-Vorsitz

Auf zum letzten Gefecht

Die Mitgliederbefragung der SPD über ihren künftigen Vorsitz geht in die entscheidende Phase. Das Duo Olaf Scholz und Klara Geywitz steht für ein »Weiter so«, Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken sehen die Große Koalition hingegen kritisch.

Es ist ein einprägsames Bild, das Norbert Walter-Borjans gerne bemüht. Auf den zahlreichen gutbesuchten Regionalkonferenzen, die die SPD quer durch die Republik zur Präsentation der Kandidatinnen und Kandidaten für den Parteivorsitz organisiert hatte, verglich der 67jährige Kölner immer wieder die SPD mit einem großen Bus. Bei dem stehe zwar vorne »soziale Gerechtigkeit und Zukunft« als Fahrtziel drauf, doch er habe kaum noch Fahrgäste. »Die Leute fahren nicht mehr mit, weil sie uns nicht glauben, dass wir da noch hinfahren«, rief der frühere sozialdemokratische Finanzminister Nordrhein-Westfalens der Parteibasis entgegen. Tatsächlich sei die SPD nicht erst seit der derzeitigen Koalition mit CDU und CSU »vom Weg abgekommen«. Sie sei auch schon zuvor auf Berater und Lobbyisten hereingefallen, »die uns in die neoliberale Pampa gewiesen ­haben«.

Auf Bundesebene erreicht die SPD in den aktuellen Umfragen Zustimmungswerte zwischen 13 und 16 Prozent. Dabei galten die 20,5 Prozent bei der Bundestagwahl schon als Desaster.

Für diese Beschreibung erhielt Walter Borjans, der sich gemeinsam mit der 58jährigen baden-württembergischen Bundestagsabgeordneten Saskia Esken um den SPD-Vorsitz bewirbt, stets großen Applaus. Ihre Konkurrenten Olaf Scholz und Klara Geywitz klatschten nicht. Vom 19. bis zum 29. November können sich die etwa 425 000 Mitglieder der SPD entscheiden, ob sie dem einen oder dem anderen Team die Führung ihrer traditionsreichen, aber bedenklich schwächelnden Partei zutrauen. An der ersten Runde der Mitgliederbefragung, bei der insgesamt sechs Teams zur Auswahl standen, ­beteiligte sich etwas mehr als die Hälfte der Mitglieder. Der 61jährige Bundesfinanzminister Scholz aus Hamburg und die 43 Jahre alte Pots­damerin ­Geywitz, die im September aus dem Brandenburger Landtag gewählt ­wurde, lagen mit knapp 23 Prozent der abge­gebenen gültigen Stimmen zwar erwartungsgemäß vorn. Doch Walter-Borjans und Esken lagen mit gut 21 Prozent nur knapp dahinter. Die Stichwahl gilt als völlig offen. Für ­welches der beiden Teams sich die Parteibasis entscheidet, dürfte durchaus maßgeblich für die Zukunft der SPD sein.

Bereits die verlorene Bundestagswahl vor zwei Jahren hätte die SPD als Zäsur begreifen müssen. Schließlich hatte die Partei zuletzt im März 1933 – der letzten Reichstagswahl vor ihrem Verbot – bei einer nationalen Stimmabgabe schlechter abgeschnitten. Und zunächst klang die Parteispitze ja auch so, als könnte sie etwas begriffen haben. »Es ist also Zeit für eine schonungslose Betrachtung der Lage«, forderte Scholz damals. Und der seinerzeitige Parteivorsitzende Martin Schulz ging noch weiter: »Eine fundamentale und tiefgreifende Erneuerung unserer Partei ist unabdingbar, wenn wir langfristig wieder erfolgreich sein wollen«, verkündete er. »Unser Neustart wird umfassend sein – organisatorisch, strukturell, strategisch.« Das blieb leeres Geschwätz, wie so vieles andere auch. Mit der Fortsetzung der Großen Koalition sank der parteiinterne Reformelan immens.

 

Dazu passt, dass der gescheiterte Kanzlerkandidat Schulz nun im Spiegel für Scholz als seinen Nachnach­folger im Parteivorsitz wirbt – in einem gemeinsamen Interview. Schulz begründet das ausgerechnet mit genau jener Koalition mit den Unionsparteien, die er noch am Wahlabend und den ersten Wochen danach vehement abgelehnt und definitiv ausgeschlossen hatte: Er halte »es für fahrlässig, eine Debatte darüber zu führen, ob die SPD aus der Regierung aussteigen soll«, sagte er nun. Das dürfe auf keinen Fall geschehen. Da vertraue Schulz Scholz mehr als den anderen Bewerbern. »Diese Unterstützung ist mir wichtig«, bedankte sich der Vizekanzler artig.

Von dem Wahlsieg Gerhard Schröders 1998 bis zur Schulz-Schlappe 2017 hat die SPD mehr als 10,6 Millionen Wähler verloren. Daran trägt Olaf Scholz, der seit 2001 in verschiedenen Funktionen dem Parteivorstand angehört, einige Mitverantwortung – angefangen von seiner Zeit als SPD-Generalsekretär zwischen 2002 und 2004, in der er erbarmungslos die unsoziale Agenda 2010 verteidigte. Es gebe »in Deutschland eine gewaltige Umverteilung von oben nach unten«, behauptete er damals – obwohl das Gegenteil der Wahrheit entsprach. Auf etlichen Regionalkonferenzen wurde Scholz mit Fragen nach Hartz IV konfrontiert – und wich ihnen ebenso aus wie denen nach der »schwarzen Null«, an der er dogmatisch festhält, obwohl es ökonomischer Unsinn ist. »Der Finanzminister, der Mut für eine entscheidende Tugend in der Politik hält, antwortet feige einfach gar nicht«, konstatierte das nicht gerade als linksradikal verschriene Handelsblatt.

Auf Bundesebene erreicht die SPD in den aktuellen Umfragen Zustimmungswerte zwischen 13 und 16 Prozent. Dabei galten die 20,5 Prozent bei der Bundestagwahl schon als absolutes Desaster. »Wir brauchen eine starke SPD, die sich was traut, die sich auch traut, Wahlen zu gewinnen«, sagte Scholz nach der Verkündung des Ergebnisses der ersten Runde der SPD-Mitgliederbefragung Ende Oktober im Willy-Brandt-Haus. Und keiner hat gelacht. Als wäre es wirklich das Problem der SPD, dass sie sich nicht trauen würde, Wahlen zu gewinnen. Sie kann es schlicht nicht mehr. Die Partei steht am Abgrund, doch Scholz und Geywitz setzen gemeinsam mit dem überwiegenden Teil des Parteiestablishments auf ein »Weiter so«. Wie wenig sie begriffen haben, zeigt das jämmerliche, aber von den SPD-Ministern als großer Erfolg verkaufte Klimapaket der Bundesregierung.

Seit der Bundestagswahl im September 2017 hat die SPD nur noch eine einzige Landtagswahl ohne Einbruch in der Wählergunst überstanden. Das war die Wahl in Niedersachsen einen knappen Monat später, also die in jener kurzen Zwischenperiode, in der die SPD-Führung großmäulig tönte, unter keinen Umständen die Koalition mit der Union fortzusetzen. Seit auch das nur noch Geschichte ist, ist es landauf, landab weiter bergab gegangen, Wahlniederlage reihte sich an Wahlnieder­lage. In Bayern und Hessen im vergangenen Jahr sowie bei der Europawahl im Mai musste die SPD sogar zweistellige Verluste hinnehmen.

 

Wie dramatisch das Ausmaß des Niedergangs ist, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass die Partei mittler­weile in drei Bundesländern (Bayern, Sachsen und Thüringen) mit einem Wählerstimmenanteil von weniger als zehn Prozent im Parlament sitzt, in zwei weiteren Ländern (Sachsen-Anhalt und Baden-Württemberg) erhielt sie nur knapp mehr als zehn Prozent der Stimmen. In sechs Landtagen (Hamburg, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg und Berlin) stellt die SPD immerhin noch die größte Fraktion. Doch in ebenfalls sechs Landesparlamenten rangiert sie nur auf dem dritten (Hessen), dem vierten (Baden-Württemberg, Sachsen-Anhalt, Thüringen) oder gar dem fünften Platz (Bayern, Sachsen).

Wenn die Partei in den kommenden Wochen die falschen Entscheidungen trifft, dürfte das das Ende als sogenannte Volkspartei zur Folge haben. Das heißt nicht, dass die SPD dann gänzlich verschwinden würde. Aber ihre Rolle wäre nur noch die einer von mehreren Kleinparteien, vielleicht noch als gefällige Mehrheitsbeschafferin wohl­gelitten, ansonsten jedoch weitgehend bedeutungslos. Insofern hat der Juso-Vorsitzende Kevin Kühnert Recht, wenn er die Wahl zwischen den Duos Scholz / Geywitz und Walter-Borjans / Esken als Richtungsentscheidung bezeichnet. Da die Krise der Sozial­demokratie zwar eine hausgemachte, aber keine ausschließlich deutsche ist, kann ein Blick über den Tellerrand hilfreich sein: Will die SPD wirklich so enden wie ihre jetzt schon margina­lisierten Schwesterparteien in Frankreich, Griechenland oder den Niederlanden? Oder steuert sie noch um, bevor es zu spät ist?

Scholz und Geywitz haben zwar das Parteiestablishment weitgehend auf ihrer Seite. Aber auch Walter-Borjans und Esken können sich einiger Unterstützung erfreuen, und zwar nicht nur der von den Jungsozialisten. Die beiden sind alles andere als radikale Linke. Zu früheren Zeiten wären sie wohl als »Zentristen« charakterisiert worden, ganz so wie einst Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Johannes Rau, dessen Regierungssprecher Walter-Borjans war. Von Rau stammt auch Walter-Borjans’ Lieblingszitat: »Wir müssen nicht nur die gewinnen, die Solidarität brauchen, sondern auch die, die Solidarität zu geben bereit sind.«

Ob es Walter-Borjans und Esken gelingen kann, die SPD aus ihrer tiefen Krise zu führen, ist ungewiss. Aber wenn die Partei überhaupt noch eine Chance haben will, dann werden sich ihre Mitglieder und anschließend der Bundesparteitag Anfang Dezember in Berlin für die beiden entscheiden müssen. Denn sie scheinen wenigstens eine Ahnung davon zu haben, worin die Krise ihrer Partei überhaupt begründet ist. »Uns ist die Glaubwürdigkeit abhandengekommen, dass die SPD es mit der Sozialdemokratie ernst meint«, schreiben die beiden in ihrer Bewerbung. Das trifft es eigentlich ganz gut.