Die Lehren aus dem NSU-Komplex gelten auch für die Bewertung des Anschlags von Halle

Überwachen und strafen

Große Teile der deutschen Gesellschaft wollten und wollen nicht wahrhaben, dass Rechtsterrorismus und Rassismus hierzulande drängende Probleme sind. Es ist die Aufgabe der Linken, das zu ändern.

Nach dem antisemitischen und rassistischen Anschlag von Halle Anfang Oktober war wieder einmal vom »Einzeltäter« beziehungsweise einem Problem mit »Killerspielen« die Rede. Kein Argument scheint zu absurd, um nicht für den eigentlichen Zweck dieser Darstellungen herangezogen zu werden: Man habe es nicht ahnen können, hätte also nichts gegen solche Anschläge tun können und könne dies im Grunde in Zukunft nicht. Es ist bequemer, regelmäßig zu erschrecken und ganz erschüttert zu sein, als sich mit behördlicher, politischer, medialer und gesellschaftlicher Verantwortung für den Terror auseinanderzusetzen. Je schneller die Angriffe aufeinander folgen, desto absurder werden die immer gleichen Aussagen dazu. Immerhin fällt das inzwischen wesentlich mehr Leuten auf als noch vor einigen Jahren.

Die Rede von der Unvorstellbarkeit des Rechtsterrorismus hierzulande gilt es unmöglich zu machen.

Die vielen rechten Anschläge und Morde vor und nach 1990 waren lange Zeit fast nur den Betroffenen im Gedächtnis; in der Öffentlichkeit und auch bei den meisten Linken waren sie so gut wie vergessen. Das änderte sich mit der Selbstenttarnung des NSU im November 2011. Mittlerweile weiß man, dass der Rassismus beziehungsweise die Leugnung von Rassismus auf allen Ebenen der Gesellschaft – eben auch unter deutschen Linken – den Blick dafür versperrt hatten, die Mord- und Anschlagsserie des NSU als das zu erkennen, was sie war: rechter Terror. Die Opferauswahl und die Vorgehensweise waren deutliche Hinweise. Rechtsterroristen wählen ihre Opfer stets nach ideologischen Gesichtspunkten aus, die Gewalt richtet sich gegen typische Hassobjekte des Rassismus: Juden und Jüdinnen, sogenannte sozial Schwache oder Obdachlose, Sinti und Roma, Queers, vermeintliche und tatsächliche politische Gegnerinnen und Gegner. Frauen in Politik, Wissenschaft und Medien gehören derzeit ebenfalls zu den bevorzugten Hassobjekten der extremen Rechten.

Ist der eigene Blick dafür einmal ­geschärft, lässt sich leicht erkennen, wie der Terror funktioniert. Derzeit droht er von vier unterschiedlichen Gruppen der extremen Rechten: der »Generation NSU«, der »Generation 2015«, Attentätern wie Anders Breivik und von Netzwerken in den Behörden. Allen ist gemeinsam, dass sie sich durch die derzeitige völkisch-autoritäre Mobilisierung bestärkt fühlen, zur Tat zu schreiten oder dies vorbereiten.

 

Die »Generation NSU« rief sich mit dem Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke wieder in Erinnerung. Hier zeigte sich, dass die For­derungen von Gruppen wie NSU-Watch oder des Tribunals »NSU-Komplex auflösen« nach vollständiger Aufklärung und der Abschaffung des Verfassungsschutzes keineswegs übertrieben wa­ren. Dadurch wollte man Morde wie den an Lübcke verhindern. Neonazis wie Lübckes mutmaßlicher Mörder Stephan Ernst und dessen mutmaßlicher Komplize Marcus H. konnten sich seit den frühen neunziger Jahren organisieren. Während Ernst bereits damals Brand- und Bombenanschläge verübte, die sich gegen Migranten und Geflüchtete richteten, beteiligten sich andere, von der damaligen rassistischen Mobilisierung angestachelt, an Pogromen wie in Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda. Später halfen einige Neonazis dieser Altersgruppe dem NSU bei seiner Mord- und Anschlagsserie. 2012 reorganisierte sich dieses terroraffine Neonazimilieu und verwendete dafür erneut unter anderem sein altes Label »Combat 18«. Ob diese Neonazis nun im direkten Kontakt mit dem NSU standen oder nur derselben Generation extremer Rechter angehören: Statt dieses von V-Leuten des Inlandsgeheimdiensts durchsetzte Netzwerk aufzudecken, halten die Behörden Akten weiter unter Verschluss oder schredderten sie. So bleibt das Netzwerk weiterhin gefährlich.

Die gegenwärtige rassistische Mobilisierung ermuntert wiederum jüngere Neonazis zu Terror. Sowohl durch Stimmungsmache in sozialen Medienwie Facebook und Twitter als auch durch die Pegida-Aufmärsche und die Wahlerfolge der AfD fühlt sich die »Generation 2015« ermutigt. Diese Neonazis verbreiten Straßenterror gegen Einzelpersonen und greifen Geflüchtetenunterkünfte mit Brand- oder Sprengsätzen und Waffen an. Sie gehen – wie Nino K., der sogenannte Moscheebomber von Dresden – einzeln terroristisch gegen Menschen vor, die nicht in ihr Weltbild passen, oder sie organisieren sich in Gruppen wie »Revolution Chemnitz« oder der »Gruppe Freital«. Der Wunsch der Mitglieder von »Revolution Chemnitz« war es, dass der NSU im Vergleich zu ihnen wie eine »Kindergartenvorschulgruppe« aussehen sollte. Einige Angehörige der »Generation 2015« haben eine längere neonazistische Vorgeschichte, andere kamen neu hinzu.

Bei der Betrachtung des Anschlags von Halle fallen als erstes die Parallelen zumAttentat des norwegischen Rechtsterroristen Anders Breivik sowie dem von Christchurch auf. Breivik ­tötete am 22. Juli 2011 77 Menschen in Norwegen. Rechter Terror zielt auch immer darauf ab, Nachahmer zu inspirieren, und Breivik setzte ohne Zweifel das von ihm gewünschte Fanal. Seinem Beispiel folgen weltweit Attentäter mit eigenen Manifesten und Videos. Ob beim OEZ-Attentat, das am Jahrestag des Breivik-Anschlags 2016 in München zehn Tote forderte, oder beim Christchurch-Attentäter, der am 15. März 2019 51 Menschen ermordete: Überall finden sich ähnliche ideologische Versatzstücke wie die rassistisch-antisemitische Erzählung vom »Großen Austausch«, auf deren Bedeutung ­Alexander Winkler und Judith Goetz hingewiesen haben (Jungle World 42/2019). Die Täter aus dieser Gruppe handeln häufig allein. Über das Internet stehen sie weltweit mit Gleichgesinnten in Kontakt, mit denen sie sich über Terrorkonzepte, Anleitungen zum Waffenbau oder zur Tatausführung austauschen. Wenn sie zur Tat schreiten, versorgen sie ihre Online-Community mit Video- und Textbotschaften in der Hoffnung auf eine weitere Eskalation.

 

Die rechten Netzwerke in den Sicherheitsbehörden mit Namen wie »Nordkreuz« oder »NSU 2.0« sind trotz aufwendig recherchierter Berichterstattung derzeit noch große Unbekannte im Bereich des Rechtsterrorismus. Es lässt sich nur wenig herausfinden über die ­Mitglieder, darüber, wie aktiv diese Netzwerke derzeit sind, oder was der Staat tut, um sie unschädlich zu machen. Klar ist nur: Man hat es hier mit professionell bewaffneten und trainierten Personen zu tun, deren Pläne Todeslisten für politische Gegnerinnen und Gegnern umfassen. Die Frankfurter Anwältin Seda Başay-Yıldız und ihre Familie werden seit mehr als einem Jahr von einem »NSU 2.0« bedroht, dessen Mitglieder Zugriff zu Polizeicomputern hatten. Die Behörden, weite Teile der Politik und die Justiz scheinen nicht bereit zu sein, konsequent gegen diese Netzwerke vorzugehen.

All diese Gruppen hängen Ideologien der Ungleichwertigkeit wie Antisemitismus und Rassismus an und sehnen einen Bürgerkrieg oder einen »Tag der Abrechnung« geradezu herbei. Dafür bewaffnen sie sich und schreiten in einer faschistischen Selbstermächtigung zur Tat, weil sie glauben, durch Gewalt ihre autoritäre, heteronormative und völkische Vision einer Volksgemeinschaft verwirklichen zu können.
Die rechtsterroristischen Netzwerke werden wieder zuschlagen, wenn man sie nicht daran hindert. Die Täterinnen und Täter vergangener Anschläge müssen erkannt, gefasst und zur Verantwortung gezogen werden. Straflosigkeit ermutigt zu weiteren Taten. Die Rede von der Unvorstellbarkeit des Rechtsterrorismus hierzulande gilt es unmöglich zu machen. Dazu bleibt es unerlässlich, weiter antifaschistische Recherche zu betreiben und über das Versagen und die Komplizenschaft in den Behörden aufzuklären.

Die Verbreitung von Rassismus, Antisemitismus, Misogynie und Queerfeindlichkeit in einer Gesellschaft ist ein entscheidender Faktor dafür, dass der rechte Terror überhaupt funktionieren kann. Diese Ideologien der Ungleichwertigkeit gilt es auf allen gesellschaftlichen Ebenen zu bekämpfen; mit dem Finger auf Neonazis und den Verfassungsschutz zu zeigen, genügt nicht. Das ist eine entscheidende Erkenntnis aus dem Versagen der Linken angesichts des Terrors des NSU. Dass Solidarität kein abstraktes Konzept ist, sondern auf konkreten Beziehungen zwischen Menschen aufbaut, ist eine weitere. Der Mangel an Empathie, den Robert Ogman nach dem Anschlag von Halle in Deutschland berechtigterweise anklagt (Jungle World 44/2019), sollte der Linken eine Warnung sein: Die Überlebenden, die direkt Betroffenen und die durch den Terror in Angst Versetzten brauchen praktische Solidarität und keine leeren Worte. Gäbe es für diese Menschen in der deutschen Gesellschaft mehr Empathie, würden mehr Menschen rechten Terror ernst nehmen und etwas dagegen tun.