Die linken Regierungen Lateinamerikas haben sich selbst demontiert

Der Fluch des Reformismus

Die Proteste in Lateinamerika richten sich gegen Regierungen, die es versäumt haben, auf soziale Probleme zu reagieren und die Armut zu bekämpfen. Das gilt auch für linke Regierungen, denen einmal viel Hoffnung galt.

Es ist nicht leicht, bei all den Unruhen, die Südamerika erschüttern, die Orientierung zu behalten. Die Krise in Ve­nezuela, wo sich zwei Präsidenten gegenseitig die Legitimität absprechen, während die Bevölkerung unter einer schweren Wirtschafts- und Versorgungskrise leidet, ist derzeit in den Hintergrund getreten. In Kolumbien begannen in der vergangenen Woche Proteste gegen die Politik des Präsidenten Iván Duque. Und seit Oktober kommt es auch in bislang recht ruhigen Ländern zu Protesten, Polizeigewalt und Ausschreitungen.

In der Vergangenheit kannte die herrschende Klasse in Lateinamerika vor allem zwei Mechanismen der Herrschaftssicherung: Wahlbetrug und Diktatur.

Anfang Oktober ordnete der Präsident Ecuadors, Lenín Moreno, per ­Dekret an, die Subventionen für Treibstoffe zu streichen. Die Folge waren Massenproteste, vor allem von Indigenenverbänden und Gewerkschaften. Nachdem Moreno anfangs mit Härte reagierte und den Ausnahmezustand ausrufen ließ, was zu Toten und Hunderten Verletzten führte, lenkte er Mitte Oktober ein. Nach Verhandlungen mit Vertretern der Protestbewegung hob er das Dekret auf.

Auch in Chile löste eine Verteuerung der Transportkosten Proteste aus. In der Hauptstadt Santiago erhöhte die Regierung die Preise für U-Bahntickets um 30 Pesos (etwa 3,7 Cent). Auf die folgenden Proteste reagierte der Staat mit Gummigeschossen. Es entstand eine landesweite Bewegung, die breite gesellschaftliche Unterstützung fand und bald grundlegende wirtschaftliche Forderungen stellte. Schließlich bildete Präsident Sebastián Piñera sein Kabinett um. Zudem soll im April 2020 ein Referendum darüber entscheiden,ob Chile eine neue Verfassung erhält. Die derzeitige geht ebenso auf den Diktator Augusto Pinochet zurückgeht wie die Privatisierung nahezu aller öffentlichen Güter in Chile. Die genauen Modalitäten sorgen weiterhin für Streit; Proteste und Gewalttätigkeit dauern an.

In Bolivien wollte Präsident Evo Morales, der das Land seit 2005 regiert, Ende Oktober wiedergewählt werden. Eigentlich verbot ihm die Verfassung eine weitere Amtszeit. In einem Referendum hatte er die Bevölkerung 2016 um Zustimmung zu einer erneuten Kandidatur gebeten – ohne Erfolg. Schließlich gestattete ihm ein wohlwollendes Urteil des Obersten Gerichts, erneut anzutreten. Aus der Wahl am 20. Oktober ging er der Wahlbehörde zufolge als Sieger hervor, doch es gab Ungereimtheiten bei der Auszählung. Es kam zu großen Protesten gegen das Ergebnis, an dem auch die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) Zweifel anmeldete. Morales verkündete Neuwahlen, wurde jedoch von Polizei und Militär, die ihm die Gefolgschaft verweigerten, zum Rücktritt genötigt. Inzwischen hat eine Interimspräsidentin das Amt übernommen. Polizei und Militär gehen rabiat gegen die Unterstützer des ehemaligen Präsidenten vor.