Der analoge Mann

Aus Kreuzberg und der Welt: Der Baum im Hinterhof.

Ich bin kein Natur-Fan. Gelegentlich im Wald spazieren zu gehen, ist okay, aber es wird mir schnell langweilig. Ein Baum sieht für mich aus wie der andere. Die wunderschöne Natur ist nicht etwas, in dem ich mich tagelang oder wochenlang aufhalten möchte. Vielleicht bin ich für diese Erfahrung einfach noch nicht alt, müde, erholungsbedürftig oder sensibel genug. Ich brauche jedenfalls eine andere Art der Anregung, um glücklich zu sein. In Plattenläden habe ich mich zum Beispiel noch nie gelangweilt. Ich könnte leicht Urlaub im Plattenladen machen und brauche nicht viel Natur.

Das dachte ich zumindest bis vergangene Woche. Ich saß vormittags am Zeichentisch und zeichnete. Aus der Küche drangen Geräusche. Es klang so, als würden im Hinterhof Gärtner mit einer Motorsäge Äste beschneiden. Als ich eine Stunde später in die Küche ging und aus dem Fenster sah, fehlten dem einzigen großen Baum im Hinterhof bereits alle Äste. Mit einer Leiter an den nun nackten Stamm gelehnt, schnitt ein Mann mit der Motorsäge den letzten Ast ab. Sprachlos stand ich am Fenster. Protestieren war zwecklos. Der Baum war nicht mehr zu retten. Eine schreckliche Schwermut breitete sich in mir aus. Ich ging aus der Küche und schloss die Tür. Dieser Baum hatte meine Freundin und mich 22 Jahre lang, so lange wir in dieser Wohnung wohnen, begleitet. War immer da, wenn ich aus dem Hinterhof blickte. Und ich bin ja Intensivwohner, bin also fast immer zu Hause. Da ist der Blick aus der Küche wichtig. Der Baum hat immer Vögel angezogen. Er war eine grüne Abwechslung  im grauen Hinterhof. Es war kein Baum unter Bäumen. Es war der einzige Baum, der mir wichtig war.

Am Nachmittag war auch der Stamm verschwunden. Nur der Stumpf blieb. Warum musste der Baum weg? Er sah nicht krank aus, war jedes Jahr voll mit grünen Blättern. Aber er war so groß, dass er den Mietern auf der anderen Seite des Hinterhofs bis in den dritten Stock die Sicht aus dem Fenster versperrte. In der Mitte des Hinterhofs ist eine Mauer. Sie trennt zwei verschiedene Häuser und Hauseingänge. Der Baum gehörte nicht zu unserem Haus. Unser Haus ist in staatlichem Besitz, das andere in privatem. Der Baum musste weg, weil er den Mietern die Sicht aus ihren teuren Wohnungen nahm, die sie noch nicht mal richtig abwohnen können, weil sie so viel arbeiten müssen, um sie zu bezahlen.

Die einzigen Leute, die hier aus dem Fenster gucken, sind der Grieche, ich und der Hinterhofmessie. Letzterer wohnt in einem kleineren Haus im Schatten unseres Vorderhauses. Eigentlich dürfte dieses Haus gar nicht existieren. Es riecht nach Depression. Liegt immer im Dunkeln. Im Winter wickelt der Hinterhausmessie sich Plastiktüten um die Füße. Er trägt immer Weste und Mütze und geht bucklig, vornübergebeugt. Niemand grüßt den Eremiten und niemand spricht mit ihm. Vor Jahren begann ich, ihn im Hinterhof zu grüßen. Er nickte immer nur kurz mit dem Kopf. Später haben wir uns gelegentlich unterhalten. Es waren seltsame Gespräche. Ich kann mich nicht an ihren Wortlaut erinnern, nur daran, dass er so verschroben war, dass es kaum auszuhalten war. Der Hinterhausmessie ist im Gegensatz zu mir ein tatsächlich analoger Mann, besitzt weder einen Computer noch einen Fernseher. Außer einer Schreibtischlampe brennt nie Licht in seiner Wohnung. Im Schein dieser Lampe sehe ich ihn manchmal Zeitung lesen. Nur gelegentlich treffe ich ihn im Supermarkt. Ich kaufe meist am Nachmittag ein, er am Vormittag. Der Hinterhofmessie stapelt Pappkisten und Papier bis an den Rand seiner zwei Fenster. Eines davon steht das ganze Jahr halboffen.

Ihn muss der Verlust des Baumes noch mehr getroffen haben als mich. Wer immer zu Hause ist, guckt aus dem Fenster, dort war der große, grüne Baum, der den Hinterhof mit Leben füllte. Das einzige Stück Natur, das mir etwas bedeutete. Aber vielleicht kommen die Vögel ja trotzdem im Frühling zu den zwei viel kleineren Bäumchen, die noch im Hinterhof stehen. Und vielleicht ist jetzt so viel mehr Licht da, dass die Bewohner des Schattenhauses endlich den Himmel sehen können.