Die Proteste gegen die Rentenreform in Frankreich spalten die extreme Rechte

Sie küssten und sie schlugen sie

Der rechtsextreme Rassemblement National gibt vor, die Streiks gegen die Rentenreformpläne der französischen Regierung zu unterstützen. Andere extrem rechte Gruppen greifen die Streikenden an – physisch und verbal.

Es läuft nicht immer so rund für die französischen Neofaschisten wie am 30. November in der nordwestfranzösischen Kleinstadt Lisieux. An jenem Tag gingen dort die Gewerkschaften CGT, Force Ouvrière und SUD zusammen mit Einwohnern auf die Straße, um gegen die drohende Schließung des örtlichen Krankenhauses zu protestieren. Da im März in ganz Frankreich Kommunalwahlen stattfinden sollen, kamen auch verschiedene Stadtrats- und Bürgermeisterkandidaten. Die CGT stieß sich an der Anwesenheit Alain Angelinis, des Spitzenkandidaten des rechtsextremen Rassemblement National (RN, Nationale Sammlung), des früheren Front National (FN), in Lisieux. Die Gewerkschaft verließ die Demonstration unter Protest und veröffentlichte kurz darauf eine Presseerklärung dazu. Der Kandidat des RN blieb.

Am 5. Dezember begannen in etwa 250 französischen Städten Demonstrationen gegen die Rentenreformpläne der Regierung (Jungle World 49 und 50/2019). Die einst von Jean-Marie Le Pen und mittlerweile von dessen Tochter Marine Le Pen geführte Partei ­bemüht sich in noch nie dagewesener Art und Weise, als Unterstützerin der Protestbewegung zu erscheinen.

Bereits vor Beginn der Streiks und Demonstrationen hatte sich Marine Le Pen zu deren »Unterstützerin« erklärt, jedoch angegeben, sich von der Straße fernhalten zu wollen.

Tatsächlich tritt die mit Abstand stärkste Partei der extremen Rechten in Frankreich zum ersten Mal als Unterstützerin einer Streikbewegung in Erscheinung, zumindest verbal. Ohne selbst an Protestdemonstrationen teilzunehmen, behauptet Marine Le Pen seit Ende November 2019, sie unterstütze die Streiks und Proteste gegen die Regierungspläne zur Rente.

In der Vergangenheit hatte der RN beziehungsweise der FN eine solche Haltung stets verworfen, obwohl der FN sich seit den frühen neunziger Jahren erkennbar um einen sozialen und kapitalismuskritisch klingenden Tonfall bemühte. Die Partei spekulierte damals, die nach dem Berliner Mauerfall und dem Ende der Sowjetunion desorientierte Wählerschaft der französischen KP übernehmen zu können. Bis zu den derzeitigen Streiks behauptete die Partei zwar, sich für eine Alternative zum Neoliberalismus einzusetzen, lehnte jedoch Gewerkschaften und Streiks ab.
Dieser Widerspruch zwischen sozialem Anspruch und Distanz zur Arbeiterbewegung erschwerte es dem FN und dem RN, Fuß zu fassen. An Wahlsonntagen geben zwar auch gewerkschaftlich organisierte Beschäftigte in beträcht­licher Zahl und noch wesentlich mehr unorganisierte Angestellte dem RN ihre Stimme. In deren Alltagsleben blieb die Partei bislang allerdings außen vor; mit den meisten abhängig Beschäftigten kommunizierte sie nur über das Fern­sehen und die sozialen Medien.

Die RN-Wählerschaft zählt zu jenen Teilen der französischen Gesellschaft, die die Reformpläne der Regierung ablehnen. Zwar ist die Unterstützung für die Protestierenden dort nicht so stark wie in der Wählerschaft der Linkspartei La France insoumise (LFI, Unbeugsames Frankreich) von Jean-Luc Mélenchon oder des sozialdemokratischen Parti socialiste (PS). Nach Angaben des Meinungsforschungsinstituts IFOP unterstützen 90 Prozent der LFI- und 66 Prozent der PS-Anhänger die Streiks. Mit 58 Prozent fällt die Unterstützung bei den Anhängern des RN aber immerhin mehrheitlich aus. 62 Prozent der Anhänger der konservativen Partei Les Républicains (LR, bis 2015 UMP) und 78 Prozent der Anhänger der Partei von Staatspräsident Emmanuel Macron, La république en marche (LREM, Die Republik in Bewegung), lehnen die Proteste ab.

Bereits vor Beginn der Demonstrationen und Streiks hatte sich Marine Le Pen zu deren »Unterstützerin« erklärt, jedoch angegeben, sich von der Straße fernhalten zu wollen: »Dies ist nicht die Rolle einer politisch Verantwortlichen.« Auch aus ihrer Partei, die seit vielen Jahren in ein wirtschaftsliberales und ein stärker um die Ärmeren buhlendes Lager gespalten ist, wurde sie deswegen kritisiert. Der stellvertretende Vorsitzende des RN und ehemalige Lebensgefährte Le Pens, Louis Aliot, nahm daran Anstoß. Er sagte, das Vorgehen der Gewerkschaften sei »wirkungslos«, denn: »Die Stimmzettel regeln die Probleme, nicht die Straße.« Aliot kandidiert bei den Kommunalwahlen im März im südfranzösischen Perpignan für das Amt des Bürgermeisters.

Einige Vertreter des RN ließen sich am Rande von Demonstrationen fotografieren, etwa Sébastien Chenu, ein Abgeordneter der französischen Nationalversammlung, der vor einigen Jahren von der UMP zum FN gewechselt war. Chenu veröffentlichte am 5. Dezember mehrere Fotos, auf denen er im Industriegebiet der nordfranzösischen Gemeinde Prouvy im Gespräch mit ­Demonstranten in Gewerkschaftsjacken zu sehen ist. Dass er von der Demonstration verwiesen wurde, verschwieg Chenu. Gewerkschaftsmitglieder hätten ihn gefragt, wie viel er im Monat einstecke, »Wir wollen keine Faschos!« gerufen und ihn »zum Kaviaressen mit Marine« geschickt, berichtete die Internetzeitung Mediapart.

CGT-Generalsekretär Philippe Martinez hatte vor den ersten Demonstra­tionen gesagt, man wolle nicht »zusammen mit Rassisten« demonstrieren, und: »Der RN ist nicht willkommen!« Nicolas Bay, ein Abgeordneter des RN im Europaparlament, sagte, man wolle gar nicht mitmachen, die CGT solle lieber weiterhin mit Islamisten demonstrieren – eine Anspielung auf eine ­Demonstration gegen antimuslimische Gewalttaten wie das von Claude Sinké am 28. Oktober 2019 im südwestfranzösischen Bayonne verübte Attentat (Jungle World 46/2019) und gegen Rassismus, die am 10. November in Paris stattgefunden hatte. An der von linken Gruppen organisierten Demonstration beteiligten sich auch die CGT und Martinez. Vorab war kritisiert worden, dass auch das Collectif contre l’islamo­phobie en France (CCIF) teilnahm. Einzelnen Personen des CCIF werden Verbindungen zur islamistischen Muslimbruderschaft vorgeworfen.

In Fernsehsendern wie der privaten, wirtschaftsliberal geprägten Sende­anstalt BFMTV werden in diesen Tagen wiederholt Politiker des RN als Sprecher der Reformgegner eingeladen, etwa der Europaabgeordnete Gilbert Collard am vorvergangenen Wochenende. Collard, aber auch Marine Le Pen forderten indes vor dem 24. Dezember eine »Weihnachtspause« im Streik. Dazu hatte auch Macron aufgerufen. Die Streiks wurden allerdings an den Weihnachtstagen fortgesetzt. In Paris kam der öffentliche Nahverkehr an den Feiertagen zeitweise fast völlig zum Erliegen.

Andere rechtsextreme Gruppen ­verhalten sich anders. Einer Nachrichtenseite des öffentlich-rechtlichen ­Senders France Info zufolge griffen nationalistische Monarchisten der Action française (AF) am 12. Dezember einen studentischen Streikposten an der Universität Strasbourg an. Die antimuslimische Website ripostelaique.com entdeckte eine Angriffsfläche für ihre gegen die Gewerkschaften gerichtete Agitation. Diese seien bereit, auch an Weihnachten zu streiken, weil sie den Muslimen gegenüber willfährig seien, hieß es auf der Website.