Bolivien hat die höchste Rate an Frauenmorden in Südamerika

Mörderisches Patriarchat

Bolivien hat die höchste Rate an Frauenmorden in Südamerika. Seit März 2013 gibt es zwar ein Gesetz gegen Gewalt an Frauen, doch seither hat sich wenig getan.
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»Wenn er dich schlägt, liebt er dich nicht. Zeige Gewalt gegen Frauen an«, steht auf einem blau-weißen Transparent, das am Geländer einer Brücke im bolivianischen El Alto befestigt ist. Federico Chipana guckt nur kurz hoch, bevor er die Brücke auf dem Weg zur Bushaltestelle vor dem Hotel Alexander passiert. »Transparente wie dieses hängen nicht nur in El Alto, sondern auch unten in La Paz. Nach einer Serie äußerst brutaler Frauenmorde ist die Politik gefragt«, sagt der Sozialarbeiter aus El Alto. Er arbeitet mit Jugendlichen aus der über der La Paz liegenden Boomtown, die längst größer ist als die im Talkessel liegende bolivianische Hautstadt. Innerfamiliäre Gewalt und die Rolle der Frau in einer sich wandelnden Gesellschaft seien wiederkehrende Themen in den Gesprächen mit den Jugendlichen, die sich nach der Schule im Kulturzentrum treffen, in dem Chipana tätig ist. »Wir leben in einem Land mit patriarchalen Strukturen, in dem die Frauen Rechte einfordern. Das ist neu, stößt auf Widerstand und auf Gewalt – in einem Ausmaß, das wir so nicht kennen«, berichtet Chipana.

Er kenne etliche Fälle aus El Alto, aber der Tod von Jhesica Nina, einer 20jährigen, die mit 25 Messerstichen ermordet wurde, habe ihn fassungslos gemacht. Der mutmaßliche Mörder ist ihr Ex-Freund. »Das war im Januar 2019, nur ein paar Kilometer von meinem Haus entfernt in Achocalla. Dieser Mord ist immer mal wieder bei den Jugendlichen von Villa Paulina, wo ich arbeite, ein Thema«, so Chipana. Villa Paulina liegt am äußersten Rand von El Alto. Die Polizei verirrt sich nur selten hierher, Selbstjustiz ist daher weit verbreitet. Auch Gewalt innerhalb der Familie sei nicht ungewöhnlich, so Chipana. Vor sieben Jahren hat er das kleine Kultur- und Nachbarschaftszentrum gegründet und arbeitet seither mit Jugendlichen aus sieben Schulen aus der Nachbarschaft.

128 Morde im Jahr
»Meist sind es Ehemänner, Liebhaber, Ex-Freunde, die für die Morde an den Frauen verantwortlich sind«, sagt Mónica Novillo, die Direktorin der Coordinadora de la Mujer, der Dachorganisation von Frauenorganisationen in Bolivien. Sie weist nicht nur auf die sich intensivierende Brutalität der Täter hin, sondern auch auf die Zunahme der Zahl der Feminizide, der Morde an Frauen: »Bis zum 1. Juli 2019 wurden landesweit 74 Frauenmorde registriert, mehr als jemals zuvor im ersten Halbjahr eines Jahres seit der Verabschiedung des Gesetzes 348«, berichtet Noville. »Das war der Grund, weshalb die Regierung unter Druck geriet und sich die Frage stellen lassen musste, warum das im März 2013 erlassene Gesetz 348 gegen die Frauenmorde nicht funktioniert.«

Das Gesetz hob die Haftstrafe für Morde an Frauen aufgrund ihres Geschlechts auf 30 Jahre an und sieht zudem die Einrichtung von speziellen Polizeieinheiten, Anlaufstellen bei der Staatsanwaltschaft sowie Frauenhäusern, den Einsatz von Psychologen und Präventionsmaßnahmen vor.

Diesen umfassenden Ansatz begrüßt Novillo. Das Problem sei nur, dass das Gesetz nicht angewandt werde. »Es fehlt an Geld, an Qualifizierung des Personals, aber wir haben es auch mit strukturellen Blockaden in der Justiz, darunter Korruption, zu tun. All das sorgt dafür, dass den Frauen kein Leben in Sicherheit garantiert wird, wie es das Gesetz im Untertitel verspricht«, kritisiert sie. Das belegen auch die Zahlen der Staatsanwaltschaft: Alle paar Tage wird eine Frau in Bolivien ermordet. Die Beobachtungsstelle für Geschlechtergleichheit der Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (Cepal) bescheinigte Bolivien, das für Frauen gefährlichste Land Südamerikas zu sein. 2,3 Feminizide pro 100 000 Frauen zählt die Studie für 2018 in Bolivien, deutlich mehr als in den Nachbarländern Brasilien und Peru. In absoluten Zahlen führt zwar Brasilien die Statistik für ganz Lateinamerika für das Jahr 2018 mit 1 206 Feminiziden an, allerdings sind das 1,1 Feminizide pro 100 000 Frauen. In Peru waren es 2018 mit 131 Feminiziden zwar drei mehr als in Bolivien, aber auch die dortige Bevölkerung ist größer als die bolivianische und die Rate beträgt 0,8 Feminizide pro 100 000 Frauen.

»Verantwortlich sind die patriarchalen Strukturen. Die Männer meinen, über die Körper und das Leben der Frauen verfügen zu können«, so Novillos Kollegin Violeta Domínguez von der UN-Frauenorganisation in La Paz. Gegen diese Strukturen wehrten sich mehr und mehr Frauen, die mit der Verabschiedung des Gesetzes 348 Hoffnung schöpften und ihre Rechte einforderten, so Novillo. Die Zahl der Proteste und Demonstrationen von Frauenorganisationen nimmt zu und die Organisation Mujeres Creando (in etwa: »Frauen, die erschaffen«), die ein Frauenzentrum in der Nähe der Universität von La Paz mit Zimmern für gefährdete Frauen unterhält, sorgt mit Ak­tionen und einem feministischen ­Radiosender, Radio Deseo, für Öffentlichkeit.

Die Justiz schaut weg
Die Mujeres Creando verschafften zum Beispiel einem besonders brutalen Fall aus El Alto Aufmerksamkeit. María Isabel Pillco war 28 Jahre alt, als ihr Ehemann David Viscarra sie im Oktober 2014 so brutal zusammenschlug, dass sie eine Woche später im Krankenhaus an inneren Blutungen verstarb. Kurz vor ihrem Tod machte sie vor Zeugen ihren Mann für ihre Verletzungen verantwortlich. »Trotzdem wurde David Viscarra freigesprochen und erhielt das Sorgerecht für das gemeinsame Kind. Das haben wir von Mujeres Creando angeprangert«, sagt die Jour­nalistin Helen Álvarez. Die Frau von Anfang 60 ist eine der Stimmen von Radio Deseo, dem einzigen feministischen Radiosender Boliviens, und geht jeden Montag mit neuen Informationen über Feminizide und den Kampf gegen die Gewaltverbrechen auf Sendung. Den Mord an Pillco hat sie von Beginn an verfolgt, Kontakt zu den Eltern des Opfers gehalten und gemeinsam mit María Galindo, einem prominenten Mitglied von Mujeres Creando, dafür gesorgt, dass der Fall in einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss aufgearbeitet wurde. Dieser stellte fest, dass neun Grundrechte des Opfers verletzt und zahlreiche Verfahrensfehler begangen worden seien. Das Urteil zugunsten von Viscarra wurde aufgehoben. Für Víctor Pillco, den Vater des Opfers, ist das ein Etappenerfolg. »Doch wo sind die speziell für Gewalttaten an Frauen geschulten Richter und Staatsanwälte? Das Gesetz 348 wird in Bolivien nicht angewandt«, klagt er.

Helen Álvarez teilt seine Einschätzung nicht nur aus beruflicher, sondern auch aus privater Erfahrung. Der 19. August 2015 stellte ihr Leben auf den Kopf. An dem Tag wurde ihre Tochter, Andrea Aramayo, in den frühen Morgenstunden von ihrem Ex-Freund William Kushner auf offener Straße in La Paz überfahren – vorsätzlich, ist sich Álvarez sicher. »Seit 23 Jahren engagiere ich mich für die Rechte von Frauen, habe meine Tochter zu einer selbstbewussten Frau erzogen, die sich nichts gefallen lässt«, sagt sie mit brüchiger Stimme und fährt dann fort: »Immer sind es die starken Frauen, die sterben müssen.«

Das müsse sich ändern, dafür engagiere sie sich. Ihre Arbeit in der Redaktion einer Tageszeitung hat Álvarez aufgegeben, um flexibel zu sein: »Ein Prozess in Bolivien kostet generell viel Zeit und ein Feminizidprozess ist eine Vollzeitbeschäftigung.« Die beginnt oft schon bei der Untersuchung des Tatorts. Aramayo wurde in der Calle Pedro Salazar getötet, im Viertel Sopocachi von La Paz, wo sie sich mit ihrem Ex-Freund traf, von dem sie sich wenige Wochen zuvor getrennt hatte. »Doch das Treffen in einer Bar endete im Streit und obwohl er sie nachweislich überfahren hat, haben die Beamten den Unfallort weder abgesucht noch die Aufnahmen der Überwachungskameras in Augenschein genommen«, sagt Álvarez. All das habe sie recherchiert, Richter und Staatsanwälte auf die Versäumnisse aufmerksam gemacht, Gutachter bezahlt und auch eine Ob­duktion durch einen unabhängigen ­Gerichtsmediziner in Auftrag gegeben. Ohne ihr Engagement wäre William Kushner nur wegen fahrlässiger Tötung angeklagt worden, nicht wegen Mordes an seiner Ex-Freundin, ist sich Álvarez sicher. Dank der Unterstützung der Familie und der Mujeres Creando konnte sie die nötigen Mittel aufbringen.

Das Gesetz 348 sieht zwar vor, dass der Staat die Prozesskosten übernimmt, doch die Realität sieht anders aus. Tupfer und Latexhandschuhe für die Gerichtsmediziner, Papier für die Staatsanwaltschaft, Transportkosten für Zeugen, eigene Gutachten, Honorare für Gutachter und Anwälte – all das müssen oft die Familien der Opfer zahlen. »Wer kein Geld hat, dessen Fall endet oft mit der Straflosigkeit der Täter«, das weiß Álvarez sowohl aus eigener Erfahrung als auch von Familien, die sie begleitet oder interviewt hat.

Berechtigte Zweifel
Das hat auch Novillo von der Coordinadora de la Mujer beobachtet. Eine Studie, die ein Team von Menschenrechtsexperten der Universität Havard erstellt hat, das auf Bitten der Mujeres Creando nach Bolivien gekommen ist, bestätigt dies ebenso. Das Team analysierte mehr als 200 Feminizide, die sich allesamt nach der Verabschiedung des Gesetzes 348 ereignet hatten. Das Ergebnis ist niederschmetternd und hat den Druck auf die bolivianische Regierung erhöht. Im März 2019 beendet und im Juni vorgestellt, belegt die Studie eklatante Mängel in der Gerichtsmedizin, den Ermittlungsbehörden und der Justiz. »Die Studie beweist, was wir schon lange kritisieren«, so Novillo. »Dazu gehören die langen Verfahrenszeiten von vier, fünf oder mehr Jahren. Das ist Folter für die Familien.«

Das sollte sich ändern mit der im März 2019 erfolgten Einrichtung der »plurinationalen Dienststelle für die Frau« und eines runden Tisches der verantwortlichen Ministerien unter Vorsitz des Präsidenten. Diese Schritte begrüßt Novillo, ebenso die Berufung von Tania Sánchez, einer ausgewiesenen Expertin für Frauenrechte, zur Direktorin der Dienststelle. Im Juli 2019 wies Sánchez öffentlich darauf hin, dass in 288 der 627 seit der Verabschiedung des Gesetzes 348 im März 2013 angezeigten Frauenmorde die Täter noch nicht verurteilt worden seien. Daraufhin gab die Regierung, damals noch unter Präsident Evo Morales, im August zusätzliche Mittel frei und verabschiedete ein Aktionsprogramm gegen Frauenmorde.

Für Helen Álvarez sind das kleine Erfolge. Der Prozess wegen des Mordes an ihrer Tochter könnte nach über vier Jahren im Frühjahr enden. Ob der Täter verurteilt wird, ist offen. Aber sie habe alles dafür getan, um Feminizide nicht straffrei enden zu lassen. Immer wieder hat sie in Artikeln in unabhängigen Tageszeitungen auf die Missstände aufmerksam gemacht. Das sei sie ihrer zwölfjährigen Enkelin schuldig, so die Journalistin.

Ob sich grundsätzlich etwas än­dern wird, hängt von den Wahlen im März und der dann neu gewählten Regierung ab. Die Ergebnisse der Wahlen vom 20. Oktober waren wegen Wahlbetrugs annuliert worden (Jungle World 45/2019). »Schon im Wahlkampf zu den Präsidentschaftswahlen vom 20. Oktober tauchten unsägliche Vorschläge einiger Kandidaten auf«, zeigt sich Álvarez skeptisch. Manche schlugen vor, dass die Ehemänner von Kandidatinnen ihre Frauen begleiten sollten, andere plädierten für die Bewaffnung der Frauen und ein christlicher Laienprediger führte die Aufmüpfigkeit der Frauen als Grund für Gewalttaten gegen sie an. Darauf und auf den Vormarsch evangelikaler Kirchen in Bolivien mit extrem konservativer Ausrichtung weist auch Novillo hin. Genau dieses Milieu könnte nach den heftigen Konflikten zwischen der konservativen Interimsregierung und den Anhängern von Morales’ Partei Bewegung zum Sozialismus (MAS) bei den kommenden Wahlen Auftrieb erhalten, um so mehr, weil der MAS bisher keinen Kandidaten vorzuweisen hat.

Das ist ein Szenario, das Álvarez wenig optimistisch stimmt, ebenso wie die alarmierende Menschenrechtsbilanz der Interimsregierung. Diese sicherte der Armee Straffreiheit bei der Niederschlagung der Proteste von Anhängern Morales’ zu, woraufhin es zum Schusswaffeneinsatz und zahlreichen Toten kam. Das Gesetz, das im Namen der Aufrechterhaltung der Ordnung Straffreiheit garantierte, wurde bislang nicht zurückgenommen. »Von einer Regierung, die so gegen Proteste vorgeht, erwarte ich keine progressive Politik gegen Frauenmorde«, so Álvarez.

 

Die Recherche wurde gefördert von Brot für die Welt mit Mitteln des Kirchlichen Entwicklungsdiensts.