Gespräch mit Amar Mohand-Amer über die Protestbewegung Hirak in Algerien

»Junge Menschen sollen dieses Land regieren«

Interview Von

Seit mehr als zehn Monaten demonstrieren Millionen Algerierinnen und Algerier im ganzen Land friedlich für die Abdankung des alten Regimes des ehemaligen Präsidenten Abdelaziz Bouteflika. Die Wahlen vom 12. Dezember 2019 bleiben umstritten (»Jungle World« 51/2019). Der Wahlbehörde zufolge lag die Wahlbeteiligung bei nur 39,4 Prozent, die Proteste gehen weiter. Wie erklären Sie sich das?

Seit dem 22. Februar 2019 haben die Algerierinnen und Algerier klargemacht, dass sie gegen ein System sind, in dem von vorneherein feststeht, wer bei Wahlen gewinnt. Dennoch sind einige Menschen wählen gegangen. Manche sind immer noch empfänglich für die offizielle Doktrin, die ihnen Stabilität und Kontinuität verspricht. Ich glaube nicht, dass die amtlich vermeldete Wahlbeteiligung die Wirklichkeit widerspiegelt. Die Mehrheit hat die Wahlen boykottiert. Die algerische Protestbewegung Hirak will einen Regimewechsel und fordert die Schaffung neuer, demokratischer Institutionen. Die jungen Menschen sollen die Chance bekommen, das Land zu regieren. Die Demonstrierenden möchten in einer Gesellschaft leben, in der die Justiz und die Gesetze die Säulen des Staates sind. Junge Algerierinnen und Algerier haben keine Hoffnung und ziehen es vor, ihr Leben zu riskieren, um mit Schiffen nach Europa aufzubrechen, um dort ihr Glück zu versuchen. Die Mitglieder des Hirak sind es leid, passiv und arbeits­los zu sein. Sie möchten ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. Das ist die größte Lehre, die wir aus diesen Protesten ziehen können.

»Der Präsident ist von einer Minderheit in Algerien gewählt worden. Sein Handlungsspielraum ist sehr klein.«

Der Journalist Ihsane El Kadi sagte am Wahlabend in der Diskussionsrunde »Cafépresse« des regimekritischen Senders Radio M, eine der Hauptforderungen der Protestbewegung Hirak sei eine Verfassungsreform mit dem Ziel, die weitreichenden Befugnisse des Präsidenten in der von Bouteflika hinterlassenen Verfassung einzuschränken. Der am 12. Dezember gewählte Präsident Abdelmajid Tebboune hat ein Referendum angekündigt, um die Verfassung zu ändern und die Befugnisse des Präsidenten einzuschränken. Zudem sagte er in seiner ersten Presskonferenz, er wolle die Korruption bekämpfen, die Pressefreiheit garantieren und die politischen Gefangenen der Hirak-Bewegung freilassen. Was halten Sie von diesen Versprechungen?

Der Präsident ist von einer Minderheit in Algerien gewählt worden. Sein Handlungsspielraum ist sehr klein. Es ist fraglich, ob er fähig sein wird, Reformen umzusetzen, weil der Hirak ihm feindlich gesonnen ist.

Ein weiteres Hindernis für die Demokratisierung ist der Einfluss der Armee. In fast jeder Familie arbeitet ein Mitglied für die Armee und genießt Privilegien. Lange Zeit galt die Armee auch als Erbe der Befreiungsarmee, die gegen das französische Kolonialregime kämpfte, und damit als allgemein anerkannte Institution. Wie steht der Hirak zur Armee?

Der Hirak setzt sich für einen zivilen Staat ein, in dem das Militär seine Funktion im Rahmen der Verfassung ausübt. Die Bewegung möchte die Armee als Institution erhalten und unterstützt sie. Aber sie ist gegen ein Militärregime in Algerien. Die Verfassung schränkt die Rolle der Armee ein, deren Aufgaben klar definiert sind. Da die politischen Institutionen in Algerien sehr schwach sind, ist es der Armee gelungen, eine Vormachtstellung in der Politik zu erlangen. Dafür gibt es noch weitere Gründe, die mit der Rolle der Armee im algerischen Befreiungskrieg (1954–64) zusammenhängen. Die Protestbe­wegung Hirak möchte, dass die Armee sich aus der Politik heraushält. Die Aufgabe der Armee beschränkt sich auf die Verteidigung des Territoriums, so wie in demokratischen Staaten.

Am 6. Dezember gab es in Algier eine Demonstration für die Wahlen. In einem Youtube-Video darüber sagte ein Mann: »Uns geht es gut in unserem Land. Wir brauchen nur einen Präsidenten.« Er fügte hinzu, diejenigen im Ausland, die Menschenrechte forderten, sollten lieber die algerischen Politiker und Oligarchen strafrechtlich verfolgen, die Staatsgelder aus den Öleinnahmen gestohlen hätten. Ist die algerische Gesellschaft gespalten zwischen denen, die eine Demokratie und einen zivilen Staat fordern, und denen, die an einer von der Armee dominierten Politik festhalten, also einem Militärregime mit einem Präsidenten?

Die Proteste haben gezeigt, dass die ­algerische Gesellschaft gespalten ist. Auf den Straßen sind aber nur die Protestbewegung, die Opposition und die Gegner der Wahlen vom 12. Dezember aktiv. Das zeigt, dass Menschen, die für das Regime sind, unfähig sind, sich zu organisieren und die Debatten auf die Straße zu bringen. Die Straße ist zu einem politischen Raum geworden, den der Hirak friedlich gestaltet. Keine Zerstörung, keine Gewalt, keine Provokationen lautet die Devise. Die algerische Hirak-Bewegung hat gezeigt, dass die Mehrheit der Bevölkerung sich ein friedliches Leben in einem starken und entwickelten Staat wünscht. Die, die noch das Bouteflika-Regime unterstützen, versuchen, das alte System, das auf der Ölrente basiert, zu erhalten.

Welche Reformen sind notwendig, um die Wirtschaft zu diversifizieren, die bisher vor allem darauf basiert, mit den Erdöleinnahmen ­Importe zu finanzieren?

Das System von Bouteflika hat Importe begünstigt, was die industrielle Produktion, die es vorher gab, kaputtgemacht hat. Der Hirak strebt eine starke nationale und entwickelte Wirtschaft an, die nicht auf der Ölrente basiert. Das Staatsgebiet ist riesig und wir haben junge Menschen, die mit der Protestbewegung gezeigt haben, dass sie ihr Land aufbauen und Wohlstand schaffen wollen. Auch die algerische Diaspora unterstützt dieses Projekt und wirbt dafür. Algerien hat alles, um zu einer wirtschaftlichen Regionalmacht zu werden, das ist eines der Ziele der Protestbewegung.

Kennzeichend für die algerische Hirak-Bewegung ist das Fehlen von Führungspersonen. Gibt es Media­toren oder Organisationen der Zivilgesellschaft, die Vertreter in Verhandlungen mit der Regierung oder der Armee entsenden könnten?

Der Hirak ist eine horizontale Bewegung, die keine Repräsentanten hat. Dies hat ihr ermöglicht, zu überleben und sich zu konsolidieren. Angesichts der neuen Situation nach der Wahl am 12. Dezember herrscht aber Konsens darüber, dass einige Mitglieder, die sich wegen ihrer politischen Meinung in Haft befinden, die Protestbewegung repräsentieren könnten, wenn das Regime ihre Bedingungen erfüllt: Freilassung der politischen Gefangenen, Freiheit der Medien, Garantie des Demonstrationsrechts sowie ein Ende der Festnahmen und Einschüchterungsmaßnahmen gegen Mitglieder der Bewegung.

Welche Rolle spielen Frauen in der Bewegung?

Eine sehr wichtige, sie haben die Bewegung organisiert, ihr Kraft verliehen, Überzeugung und Mut. Ihre starke Präsenz bei den Demonstrationen und ihr täglicher Kampf haben die algerische Gesellschaft für die Schaffung eines demokratischen Staats geöffnet.

Welchen Einfluss haben Islamisten in der algerischen Gesellschaft und in der Protestbewegung?

Die Bewegung hat eine Übereinkunft, auf der auch ihr Erfolg beruht: Dem gemeinsamen Kampf gegen ein Regime, das das Land ruiniert. Der Hirak hat keine politische Farbe, er engagiert sich für soziale Gerechtigkeit und Demokratie. Ich denke, dass der Großteil der Islamisten das begriffen hat.

Wie stark ist die staatliche Repression? Gibt es seit dem 22. Februar 2019 mehr Freiheit in Algerien?

Es ist paradox. Obwohl es viel Repression gibt, demonstrieren viele Algerierinnen und Algerier seit mehr als zehn Monaten. Der Hirak hat ein neues Bewusstsein geschaffen. Die Staatsmacht hat meiner Meinung nach verstanden, dass der Hirak Revolution bedeutet. Diese Revolution wird so lange andauern, bis eine Demokratie aufgebaut wird. Der Machtmissbrauch der Staatsgewalt, die Brutalität, die Inhaftierungen und die Repression zeigen, dass das Regime immer noch versucht, diese Bestrebungen zu unterbinden und die Gesellschaft militärisch zu kontrollieren.

Gibt es den »Geheimdienst-Clan« und den »Bouteflika-Clan« noch? Welche Konflikte gibt es innerhalb des Regimes und wie zeigen sich diese?

Die Ursprünge dieser Clans liegen im Befreiungskrieg gegen die französische Kolonialherrschaft. Zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit, im Juni 1962, erbte das Land nur eine einzige Institution, die Armee. Die anderen Institutionen dieses Krieges, wie etwa der GPRA (Provisorische Regierung der Algerischen Republik, die Regierung der nationalen Befreiungspartei FLN, Anm. d. Red.) und der CNRA (Nationalrat der Algerischen Revolution, das Parlament der FLN, Anm. d. Red.) lösten sich auf. Dieses Regime ist so stark, weil es bereits seit 1962 existiert. Es ist insofern nicht erstaunlich, dass die Armee seit 1962 das Land regiert. Die Konflikte innerhalb des Regimes bestehen nach wie vor. Der einzige Unterschied ist, dass die Bevölkerung sich seit dem 22. Februar 2019 nun politisch äußert und engagiert.

Wie beurteilen Sie die Verhaftungen einiger korrupter Geschäftsleute, die hohe Summe an Staatsgeldern veruntreut haben, sowie die Verhaftung des Generals Mohamed Mediène, der noch lange nach seinem offiziellen Rücktritt die Aktivitäten des mächtigen Geheimdienstes DRS steuerte (»Jungle World« 19/2019)? Warum werden ihre Prozesse vor dem Militärgericht in Blida unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführt?

Das Bouteflika-System, das auf Intrigen und Manipulation beruhte, hat das Land und seine Institutionen sehr geschwächt, einschließlich des Sicherheitsapparats. Die Prozesse müssen im Lichte der politischen Ereignisse nach den Wahlen analysiert werden.

Wie können die Institutionen reformiert werden, ohne dass alle Bediensteten des alten Regimes entlassen werden müssen? Was muss getan werden, um Institutionen zu schaffen, die freie, geheime und manipulationsfreie Wahlen organisieren können?

Der Hirak versucht nicht, die Institutionen des alten Regimes zu zerstören oder zu schwächen. Im Gegenteil, der Hirak möchte den Staat stärken und konsolidieren, aber auf neuen Fundamenten, und nicht auf den alten Fundamenten der Korruption und Vetternwirtschaft. Diese neuen Institutionen können mittels Kommunal- und Regionalwahlensowie nationalen Wahlen geschaffen werden, mittels freier und ehrlicher Wahlen, die derzeit nicht stattfinden können.

Was wird Ihrer Meinung nach passieren, wenn die Regierung den Forderungen der Demonstrierenden nach Schaffung eines demokratischen Staates und Abhaltung freier Wahlen nicht nachgibt?

Ein gewalttätiges Vorgehen des Hirak ist ausgeschlossen. Die Bewegung wird weiterhin versuchen, auf friedliche Weise Einfluss auf das politische Geschehen in Algerien zu nehmen. Darin besteht ihre Mission und Pflicht.