Die gesellschaftliche Bedeutung der Survival Games

Survival of the Clickest

Survival Games gehören zu den erfolgreichsten Videospielgenres der vergangenen Dekade. Hinter der Faszination verbirgt sich der Wahn: Es geht zu Ende – schieß oder stirb.

Der Überlebenstrieb ist ein Instinkt, der zu viel Adrenalinausstoss führen kann. Das hat in den vergangenen zehn Jahren auch die Spielebranche entdeckt. Survival Games gehörten zu den erfolgreichsten Titeln überhaupt. Elemente des Genres lassen sich schon in Spielen aus den neunziger Jahren wie »Resident Evil« finden. Der Boom begann spätestens 2011 mit der Veröffentlichung von »Minecraft«, das mittlerweile mit weltweit über 100 Millionen verkauften Exemplaren zu den erfolgreichsten Videospieltiteln überhaupt gehört. Zwar soll der Spieler in der Welt von »Minecraft« vorrangig den kom­plexen Rohstoffkreislauf erforschen und nach Herzenslust bauen, das Überleben spielt aber immer eine Rolle. Der Spieler muss Nahrung erjagen oder anbauen und sich gegen Monster verteidigen. Und wer stirbt, kriegt zwar eine neue Chance, verliert aber schlimmstenfalls einige hart erarbeitete Gegenstände.

Der Spieler muss kreativ werden, sich seine Ziele selbst setzen und virtuell dafür arbeiten, sie zu erreichen – ein neoliberales Paradies in Blockform.

Das Faszinierende an »Minecraft« ist, dass sich das Spiel zuweilen wie echte Arbeit anfühlt, die zudem nicht einmal dazu dient, ein konkretes Spielziel zu erreichen. Alles muss mühsam selbst hergestellt werden: Aus einem Baum wird Holz, aus Holz werden Bretter, aus Brettern werden Stöcke, aus Stöcken werden Werkzeuge, und so weiter. »Minecraft« taugt unwillentlich dazu, den Kapitalismus zu illustrieren. Einen Fortschritt in der Produktivität erlangt man nur durch Arbeitsteilung oder Prozessoptimierung. Millionen von Spielern weltweit genießen es ganz freiwillig, virtuell Getreide anzubauen, Kohle aus dem Berg zu schlagen und Stein auf Stein zu setzen. Der Spieler muss kreativ werden, sich seine Ziele selbst setzen und dafür arbeiten, sie zu erreichen – ein neo­liberales Paradies in Blockform.

Die Geschichte der Computerspiele kann man als einen fortschreitenden Ausbau der möglichen, aber nicht zwingenden Handlungsspielräume der Spieler darstellen – vom Arcade-Automaten, an dem nur reagiert werden musste, bis hin zu Open-World-Spielen wie »Minecraft« oder Lebenssimulationen (»Die Sims«, »Second Life« oder so skurille Spiele wie der »Landwirtschaftssimulator«). Diese nötigen dem Spieler so viele Entscheidungen des realen ­Lebens wie möglich auf. Immer mehr kann getan werden, immer weniger schreiben die Spiele vor, wie sie gespielt werden wollen. Der Spielstil wird damit zum ersten Mal zur relevanten Größe, er ist jetzt individuell. Ohne die fast unendlichen Handlungsmöglichkeiten wäre der Aufstieg der sogenannten »Let’s-Play«-­Videos auf Youtube, bei denen spielende User ihren Bildschirm ab­filmen, nicht denkbar gewesen: Niemand will 100 Folgen davon sehen, wie jemand ein Arcade-Spiel auf die immer gleiche Weise durchspielt. Bei Minecraft und anderen Survival Games ist es aber unmöglich, nicht individuell zu handeln. Jeden Block, den man setzt, hätte ein anderer womöglich anders gesetzt.

Die Notwendigkeit, überhaupt irgendwie zu handeln, entsteht bei Survival Games – ganz wie im echten Leben – durch den drohenden Tod. Permadeath ist eine Spielmechanik, bei der das Spiel endet, wenn die gespielte Figur stirbt; man muss ganz von vorne beginnen. Ist es in anderen Spielen reizvoll, viel auszuprobieren, da man immer wieder neue Versuche wagen kann, versagt der permadeath diesen Genuss an der Alternativrealität: Wenn alles verloren ist, sobald man einmal stirbt, muss jede Entscheidung gut überlegt sein oder auf einer gehörigen Portion Erfahrung beruhen.

Wenn dann auch noch andere Spieler hinzukommen, grüßt der Hobbes’sche Urzustand: »Day Z«, ­veröffentlicht 2012 und drei Millionen Mal verkauft, erlaubt dem Spieler ebenfalls kein weiteres Leben nach dem Tod. Hier findet man sich in ­einer postsowjetischen, von Zombies befallenen Welt wieder und muss schlicht überleben. Eine Gefahr stellen jedoch nicht allein die Untoten dar. Vor allem die menschlichen Mitspieler sind unberechenbar, können eine friedliche Gesinnung signalisieren und dann doch eiskalt zuschlagen. In der Community ist kill on sight (bei Sichtkontakt töten) verpönt, weil es den Spielspaß ruiniert, anders als bei so gut wie jedem Egoshooter, bei dem kill on sight der empfohlene modus operandi ist.

So ganz ohne Wettbewerb holte das Spielprinzip aber nicht jeden ab. Vor etwa zehn Jahren gelang dem Genre mit dem Modus »Battle Royale« diesbezüglich ein weiterer Durchbruch. In diesem treten eine Vielzahl von Spielern in einem virtuellen Areal ­gegeneinander an, bis nur noch ­einer lebt. Zwei der erfolgreichsten Spiele der vergangenen Dekade funktionieren nach diesem Prinzip: »Fortnite« und »Playerunknown’s Battlegrounds« (PUBG). Ersteres besaß bereits kurz nach der Veröffent­lichung zehn Millionen Spieler, wohl auch, weil es kostenlos ist. Es gilt als meistgespieltes Spiel des Jahres 2018. 250 Millionen registrierte Spieler bringen es zu einem Marktwert von über 200 Millionen US-Dollar. Der ­erwachsenere, realistische Konkurrent »PUBG« trumpft nicht ganz so hoch auf, zählt aber ebenso zu den erfolgreichsten Titeln der Vertriebsplattform Steam mit einer Rekordzahl von drei Millionen gleichzeitig aktiven Spielern. In beiden Spielen werden Meisterschaften ausgetragen, unter anderem eine Weltmeisterschaft, die mehrere Millionen Zuschauer verfolgen und die mehrere Millionen US-Dollar Preisgeld bringt. Zumindest »Fortnite« steht für den rasanten Aufstieg der E-Sports, der bereits etliche reguläre Sportarten in puncto Spieler, Zuschauer und Kapital überflügelt hat.

Der Spielmodus der beiden Titel ist so ähnlich, dass sich die Entwickler einen Rechtsstreit über die Idee lieferten, der aus unbekannten Gründen beigelegt wurde – wohl weil die ursprüngliche Idee ohnehin mehrfach abgekupfert wurde. »Battle Royale« heißen ein japanischer Roman aus dem Jahr 1999 und ein darauf fußender japanischer Film aus dem darauffolgenden Jahr. Deren dystopische Geschichte ist, dass in Japan aufgrund von Massenarbeitslosigkeit und Jugendkriminalität eine »Bildungsreform« beschlossen wurde, nach der den ahnungslosen Schul­kindern aus ausgelosten Schulklassen an einem Punkt in ihrer Laufbahn eröffnet wird, dass ihre letzte Lektion darin besteht, sich auf einer einsamen Insel gegenseitig umzubringen, bis nur noch ein Überlebender ­übrig ist. Bekannter dürfte die Story aus dem inhaltlich nahezu identischen Hollywood-Streifen »Die Tribute von Panem« aus dem Jahr 2012 sein. Hier treten nicht Schüler, sondern auch aus der verarmten Unterschicht Ausgesuchte gegeneinander an, der letzte Überlebende sichert die Nahrungsversorgung für seinen Herkunftsort. Bemerkenswert ist, wie die Grenzen zwischen Videospiel und Film, zwischen real vorstellbaren Zuständen und Dystopie zerfließen. In »Die Tribute von Panem« hat kein Zombievirus die Erde befallen, kein Meteorit die Städte überflutet. Stattdessen herrscht ein pervertierter Klassenkampf.

Es ist eine marxistische Grundannahme, dass die gesellschaftlichen Bedingungen entsprechende Bewusstseinszustände hervorbringen. Im ­Kapitalismus bedeutet das: Die Bewusstseinszustände, die ihn logisch, legitim und alternativlos erscheinen lassen, werden immer wieder reproduziert. Wenn bestimmte Motive in popkulturellen Produkten aufgegriffen werden und Erfolg haben, ist das nie bloße Glückssache, sondern hängt davon ab, was zur gegebenen Zeit für vorstellbar oder unvorstellbar gehalten wird. Das Survival-Sujet, das in den vergangenen Jahren im Film und zurzeit besonders dominant in Videospielen auftaucht, ist ein ­unheimlicher Ausdruck dieser Bewusstseinszustände: Der alternativ­lose Kampf aller gegen alle bei gleichzeitiger Anerkennung der Endlichkeit des Planeten, muss den Krieg bis auf den last man standing logisch zur Folge haben. Die Dystopie scheint dabei näher und reizvoller als jede positive Vorstellung einer künftigen Welt. Der kommende Kampf verspricht ein Abenteuer, eine Abwechslung vom Lohnarbeitsleben.

Mit diesem Bewusstsein wird ein echter »Battle Royale« immer leichter vorstellbar: »Game 2: Winter« lautete der Titel einer vermeintlichen russischen Reality-Show, die 2016 ins ­Leben gerufen wurde und 2017 ausgestrahlt werden sollte. 30 Teilnehmer erklärten sich zu einem echten »Battle Royale« im sibirischen Winter bereit und unterschrieben an­geblich ein Formular, in dem sie auf sämtliche Forderungen im Nach­hinein verzichteten, auch wenn sie vergewaltigt oder getötet werden sollten. Die Sache entpuppte sich später als PR-Stunt zu Marketingzwecken, die Sendung wurde nie aus­ge­strahlt. 2019 kursierten jedoch Meldungen, nach denen ein Millionär ­angeblich 100 Personen zu einem »Battle Royale« mit Airsoft-Waffen auf einer privaten Insel eingeladen hatte. Auf der  Luxusverkaufsplattform Hushhush lässt sich nach wie vor der Aufruf finden, sich als Spiel­leiter zu bewerben. Bis zum ersten tatsächlichen Turnier dieser Art, ob nun mörderisch oder nicht, könnte es nicht mehr lang dauern.

Die ersten Attentäter, die ihre Taten wie einen Egoshooter filmten, hat diese Gesellschaft bereits hervorgebracht. Der Mörder von Halle wähnte sich im Kampf gegen eine jüdische Weltverschwörung, die das Grundübel der Welt und auch Schuld daran sei, dass der Kapitalismus so viele Probleme hervorbringe. Sein Kampf schien ihm heroisch, den permadeath immer vor Augen. Die ­Attentäter von Christchurch und El Paso wollten laut eigener Aussage auch töten, weil die falschen Menschen zu viele Ressourcen verbrauchten.

Anders als Medienpädagogen seit Jahrzehnten versichern, wirkt sich das Spielen gewalttätiger Videospiele nur bedingt auf die Psyche des Spielers aus. Vielmehr e­rlauben die Existenz und der Erfolg gewisser Spielmodi Rückschlüsse ­darauf, was schon vor Erscheinen in den Köpfen brodelte, was Spieler ­unterhaltsam, spannend, logisch finden. Wenngleich die neuen Survival-Spiele komplexer, besser und interessanter sind als jemals zuvor, bietet ihre Konstruktion einen schaurigen Einblick ins Unbewusste. Der Wahn, dem bereits die apokalyptischen Prepper erlegen sind, mündet in der Konklusion kill on sight.