In Deutschland gibt es Lieferschwierigkeiten für wichtige Medikamente

Mangelware Medikamente

Bei rund 250 Arzneimitteln gibt es in Deutschland Engpässe in der Versorgung. Eine schnelle Lösung ist nicht in Sicht.

Im vergangenen Jahr hat sie ihr Medikament selbst gestreckt. Weil es das Antidepressivum nur in einer anderen Dosierung gab, hat sie die Kapsel geöffnet, die winzig kleinen Kügelchen gezählt und aus einer Dosis zwei gemacht. »Ich kam mir vor wie eine Drogenabhängige, die ihren Stoff selbst streckt. Das ist doch eigentlich nicht meine Aufgabe als Patientin«, ärgert sich Sylvia L.* aus Hamburg im Gespräch mit der Jungle World. Die 55jährige leidet seit vielen Jahren unter Depressionen, die durch das Medikament Venlafaxin gelindert werden. Doch seit rund drei Jahren hat sie Schwierigkeiten, ihr Medikament zu bekommen. »Ich muss manchmal mehrere Apotheken abklappern, bis ich meinen Hersteller und meine Dosierung finde. Das macht mir schon Angst, denn einfach absetzen darf ich das Medikament nicht. Dann könnten Nebenwirkungen bis hin zu einer erhöhten ­Suizidwahrscheinlichkeit auftreten«, berichtet L. Auch Aynur I.* ist mit der ­Diagnose Depression auf Venlafaxin angewiesen. Sie bemerkt die Versorgungsprobleme seit rund eineinhalb Jahren und muss mitunter drei bis vier Apotheken aufsuchen, um ihr Rezept einlösen zu können. Von einem Ersatzpräparat eines anderen Herstellers habe sie Juckreiz am ganzen Körper bekommen.

Ein globalisierter Markt scheintfür viele Patienten und Patientinnen keine optimale Versorgung zu bieten.

Dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte zufolge sind zurzeit 257 Medikamente nicht problemlos verfügbar. Es gibt mehrere Gründe für die andauernden Engpässe. Auf den globalisierten Arzneimittelmärkten kommt es immer wieder zu Störungen bei Naturkatastrophen, Krisen oder Produktionsausfällen, auch die Firmenkonzentration und die Produktion in Billiglohnländern mit den entsprechenden Abhängigkeiten tragen zur Verknappung bei. Außerdem »steigt die Nachfrage zum Teil schneller als die verbliebenen Produktionsstätten liefern können, weil der Wohlstand und damit die Fähigkeit, Arzneimittel zu kaufen, in vielen Ländern steigt«, erläutert Thomas Friedrich, der Geschäftsführer des Apothekerverbandes Schleswig-Holstein e. V., im Gespräch mit der Jungle World. Das sieht das Bundesministerium für Gesundheit ähnlich: »Globale Lieferketten mit einer Konzentration auf wenige Herstellungsstätten für Arzneimittel und Wirkstoffe können ein Grund für Lieferengpässe sein, aber auch Qualitätsmängel bei der Herstellung, Produktions- und Lieferverzögerungen bei Rohstoffen oder Produktionseinstellungen bei Arzneimitteln«, erläutert Teresa Nauber vom Pressereferat des Ministeriums der Jungle World. Die Wahl eines Wirkstoffherstellers sei »eine freie unternehmerische Entscheidung der pharmazeutischen Unternehmen«, weswegen sich »Lieferengpässe nicht alleine durch gesetzliche Maßnahmen ausschließen« ließen.

Ein globalisierter Markt scheint für viele Patienten und Patientinnen keine optimale Versorgung zu bieten. In den vergangenen Jahren haben immer mehr Firmen ihre heimische Produktion verringert und die Herstellung in Niedriglohnländer ausgelagert. Ende 2016 schloss mit dem zur Schweizer Novartis-Gruppe gehörenden Unternehmen Sandoz in Frankfurt, Höchst die letzte Antibiotikafertigungsstätte in Deutschland. Die chinesische Regierung hat die Antibiotikaproduktion als strategisch wichtig erkannt und riesige Werke aufgebaut, die zu Preisen produzieren, mit denen in Deutschland hergestellte Arzneimittel nicht mithalten können. Nach Recherchen von NDR, WDR und der Süddeutschen Zeitung werden mittlerweile mindestens 80 bis 90 Prozent aller Antibiotika des weltweiten Bedarfs in China und Indien hergestellt.

Neben den international veränderten Produktionsbedingungen tragen aber auch hausgemachte Faktoren zur Verknappung bei. Immer wieder werden dafür die sogenannten Rabattverträge zwischen Apotheken, Krankenkassen und Herstellern verantwortlich gemacht. Das Beitragssatzsicherungsgesetz ermöglicht seit 2003 Preisabsprachen zwischen den Arzneimittelherstellern und den gesetzlichen Krankenkassen. Die damalige rot-grüne Bundesregierung erhoffte sich eine Kostenersparnis und eine Senkung der Lohnnebenkosten in Deutschland. »Einseitiger Druck auf die Preise über ein Preismoratorium oder Rabattverträge führt zwar zu kurzfristigen Einsparungen bei den Krankenkassen, der deutsche Markt wird dadurch aber uninteressanter für das internationale Kapital«, erklärt Friedrich das Dilemma. Die Rabattverträge senkten die Gesamtkosten für die gesetzlichen Krankenkassen im Bereich Arzneimittel seit Einführung des Gesetzes um rund zehn Prozent, also vier Milliarden Euro – ein schlagkräftiges Argument für die Krankenkassen, um an dem System fest­zuhalten.

Das Versorgungsproblem hat mittlerweile auch das Bundesministerium für Gesundheit erkannt. Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) sagte bereits im November des vergangenen Jahres, dass Patienten zu Recht erwarteten, ihre »dringend notwendigen Medikamente unverzüglich« zu bekommen. Das sei »momentan leider zu häufig nicht der Fall«, weswegen ein Fünf-Punkte-Plan rasche Verbesserung bringen solle. Neben einer Meldepflicht für Bestände sollen die Lager­bestände vergrößert und die Kennzeichnungspflicht gelockert werden. Bald könnten dann die Beipackzettel nicht mehr auf Deutsch vorliegen. Demnächst soll es Apothekern auch möglich sein, andere als die verschriebenen Arzneimittel zu verkaufen, wenn das verschriebene Medikamente länger als 24 Stunden nicht verfügbar ist – allerdings nur, wenn das Präparat nicht mehr kostet. Ein Beirat soll zukünftig die Versorgungslage in Deutschland besser im Blick behalten. Friedrich kritisiert, dass so nur der Mangel verwaltet werde, aber die »systemimmanenten Ursachen« nicht beseitigt würden.

Bork Bretthauer, der Geschäftsführer des Verbandes Pro Generika, hofft, dass die Verabschiedung des »SPC Manufacturing Waiver« auf EU-Ebene im vergangenen Jahr etwas Abhilfe schafft. Diese Ausnahmeregelung, die Patente auf Medikamente länger schützt, mache die Arzneimittelproduktion in Deutschland und Europa rentabler. Aufgrund des bislang geltenden Rechts mussten alle Nachahmerpräparate wie Generika und Biosimilars außerhalb der EU produziert und dann nach Deutschland importiert werden.

Bislang gibt es noch keine nachgewiesenen gesundheitlichen Schäden oder Todesfälle durch die Verknappung. Ein Lieferengpass bei Arzneimitteln führe nicht »zwangsläufig zu einem medizinisch relevanten Versorgungsengpass«, sagt Nauber für das Gesundheitsministerium. Apotheker Friedrich ist skeptischer: »Wenn bestimmte Psychopharmaka gegen Depression fehlen und gut eingestellte Patienten auf andere Präparate umgestellt werden müssen, kann das sehr konkret zum Ansteigen der Suizidrate führen. Suizidgründe sind aber selten monokausal.«
 

* Der vollständige Name ist der Redaktion ­bekannt.