Argentinien kommt nicht aus der Krise

Hartnäckige Schulden

Die argentinische Regierung verhandelt mit dem Internationalen Währungsfonds über eine spätere Rückzahlung ihrer Kredite. Die derzeitige Wirtschafts- und Finanzkrise erinnert viele an den verheerenden Staatsbankrott des Landes 2001.

Seit Ende vergangenen Jahres ist Argentinien rechnerisch zahlungsunfähig. Kurz vor Weihnachten war das Land von den Rating-Agenturen Fitch und Standard & Poor’s als »RD« – restricted default (partieller Zahlungsausfall) – eingestuft worden. Staatspräsident Alberto Fernández, ein Peronist und erst seit 10. Dezember im Amt, bestätigte den Befund kurz darauf. »Es ist nicht wie 2001, aber sehr ähnlich, ja«, sagte er in einem Fernsehinterview. 2001 hatte ein Bankrott Argentiniens einen großen Teil der Mittelschicht in die Armut gestürzt und das politische System schwer erschüttert. Die Erinnerungen an diese Zeit sind noch sehr präsent.

Die Schulden Argentiniens belaufen sich auf 311 Milliarden US-Dollar – 91 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.

Seit 2018 steckt Argentinien erneut in einer schweren Wirtschafts- und Finanzkrise. Die Schulden des Landes belaufen sich auf 311 Milliarden US-Dollar – 91 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Kapitalflucht, Inflation und ein rapider Wertverlust des Argentinischen Peso haben das Land in die Rezession rutschen lassen, über 40 Prozent der Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze. Die Austeritätspolitik der Vorgängerregierung unter dem Konser­vativen Mauricio Macri, die dem Land zum Aufschwung verhelfen sollte, hat die Kaufkraft der Bevölkerung zudem stark beeinträchtigt. Da die Wirtschaft jedoch stark vom Binnenkonsum abhängig ist – von einigen exportorientierten Branchen im Agrarsektor (Soja, Fleisch) und der Ausbeutung von Bodenschätzen abgesehen – hat sich die Krise noch verschärft.

Der Währungsverfall erhöhte die Schulden des Landes und der Plan Macris, mit hohen Krediten einen Aufschwung zu erkaufen, sorgte für ein weiteres Anwachsen der Schulden. Seine Entscheidung, den Internationalen Währungsfonds (IWF) wieder ins Land zu holen, führte zu großen Protesten. In einem sogenannten Standby-Abkommen bekam Argentinien 2018 einen Kredit in Höhe von insgesamt 57 Milliarden US-Dollar zugesagt, die größte Kreditsumme in der Geschichte des IWF. Doch die Krise spitzte sich weiter zu. Macris Kalkül, bereits das Abkommen mit dem IWF würde das Vertrauen in Argentiniens Wirtschaft und Zahlungsfähigkeit stärken, ging nicht auf.

Die rechnerische Zahlungsunfähigkeit, die Fernández gleich zu Beginn seiner Amtszeit konstatieren musste, kam also nicht überraschend. In einer Rede vor dem Kongress am 12. Februar klagte Fernández’ Wirtschaftsminister Martín Guzmán, ein ehemaliger Schüler und Vertrauter des Nobelpreisträgers und Neokeynesianers Joseph Stiglitz, dass der Kredit von der Vorgängerregierung nicht dazu genutzt worden sei, die Produktivität zu steigern, sondern »um alte Schulden abzulösen und Kapitalflucht zu finanzieren«.

Am selben Tag traf in Buenos Aires eine Delegation des IWF ein, die sich fünf Tage im Land aufhielt. Ihr Besuch markierte den Auftakt von schwierigen Verhandlungen. Fernández’ Ziel ist es, die Rückzahlungen, die hauptsächlich für 2021, 2022 und 2023 vorgesehen sind, zu verschieben. Laut Guzmán gibt es »keine schlimmere Option als Austerität in Zeiten der Rezession«. Die Verhandlungen sollen nach dem Wunsch der argentinischen Regierung Ende März abgeschlossen sein und laufen parallel zu Verhandlungen mit den privaten Gläubigern des Landes. Da die Regierung sich bei der Bewältigung der Krise jedoch nicht »reinreden« lassen will, dürfte es schwierig werden, die internationalen Gläubiger zu überzeugen. Für diese ist ein Spardiktat nach wie vor die Bedingung für Umschuldung. Dass ein Staatsbankrott ­einen deutlichen Schuldenschnitt nach sich ziehen dürfte, könnte die Gläubiger jedoch verhandlungsbereit stimmen.

Um für Unterstützung zu werben, hatte sich der Präsident Anfang Februar eine Woche in Europa aufgehalten. Die Gespräche mit den Regierungschefs Italiens, Frankreichs, Deutschlands und Spaniens sollten außerdem eine Hinwendung zu Europa signalisieren, im Kontrast zur Orientierung seines Vorgängers an den USA. Auch ein Treffen mit Papst Franziskus stand auf dem Programm. Der vormalige Bischof von Buenos Aires gilt mitunter als den ­Peronisten nahestehend. Der französischen Tageszeitung Le Monde sagte Fernández im Interview: »Was ich verlange, ist nicht exorbitant, meine Botschaft war: Ich werde die Schulden bezahlen, aber geben Sie mir Zeit, unsere Wirtschaft wieder aufzubauen.« Dafür habe er »geballte Unterstützung« erhalten.

Die Neuverhandlung der Schuldenzahlung begleitet die Regierung mit ­einer Wirtschaftspolitik, die stark die Handschrift Guzmáns und seines Lehrers Stiglitz trägt. Bereits kurz vor Weihnachten – also nach nur zwei ­Wochen im Amt – gelang die Verabschiedung eines Notfallgesetzes im Kongress. Um den Konsum anzukurbeln und eine Hungerkrise zu verhindern, wurden Millionen Sozialhilfeempfängern Sonderzahlungen gewährt, zudem wurde ein System von Lebensmittelmarken für etwa zwei Millionen Argentinierinnen und Argentinier eingeführt. Dazu kamen Steuererhöhungen für die Reichsten. Besonders stellte die Regierung dabei die Einführung einer 30prozentigen Abgabe für den Kauf von Devisen heraus. Dadurch soll der Dollarankauf eingedämmt werden. Schon die Vorgängerregierung hatte sich kurz vor Ende des Mandats dazu durchgerungen, den Ankauf auf 200 US-Dollar pro Person und Monat zu beschränken, um den Druck auf die eigene Währung zu lindern.

Zu den neokeynesianischen Ambitionen gehört freilich auch eine Stimulierung der Produktivität. Wie genau diese aussehen soll, ist bislang nicht sehr klar. Vor allem der Exportsektor dürfte gestärkt werden, das Land braucht schließlich Devisen. Neben riesigen Agrarflächen, auf denen Soja für europäische und chinesische Tierfabriken wächst, und Rindfleisch hat Argentinien auch Bodenschätze zu ­bieten. Vor allem Erdöl und Erdgas in den Andenregionen, in Patagonien und vor der Küste können zu Geld gemacht werden. Dass die Regierung den Abbau dieser Ressourcen fördern müsse, darin ist sie sich sogar mit der Opposition einig. Daher läuft die Zusammenarbeit mit eigentlich dem Lager Macris zugehörigen Gouverneuren wie Rodolfo Suárez in der westlichen Provinz Mendoza gut. Als dort jedoch Ende des Jahres ein Gesetz zur Liberalisierung des Bergbaus verabschiedet werden sollte, musste die Provinzregierung nach heftigen Protesten schnell davon Abstand nehmen.

Die Entwicklungspolitik der argentinischen Regierung dürfte auch in Zukunft mit den Ansprüchen und dem Selbstbewusstsein sozialer Bewegungen kollidieren – ein besonderes Problem für Fernández, der sich gesellschaftspolitisch progressiv geben will. Dem für Fernández handlungsleitenden sogenannten Neodevelopmentalismus liegt die Vorstellung zugrunde, dass sogenannte unterentwickelte Länder durch öffentliche Investitionen in die Steigerung der Produktivität, etwa Industrialisierung und Exportförderung, zu Wohlstand kommen können.

In einem Punkt steht Fernández immerhin an der Seite einer der wichtigsten sozialen Bewegungen Argentiniens. Seine Regierung dürfte die von feministischen Massenprotesten seit Langem geforderte Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen wohl ­endlich durchsetzen. Zuletzt demonstrierten am Mittwoch vergangener Woche Tausende im ganzen Land mit grünen Tüchern – daher der Name pañuelazo verde für den Protest – für das Recht auf Abtreibung. Doch bisher überschattet die Schuldenkrise fast alle weiteren Probleme.