Die Veränderung in den armenischen Medien

Kommunikation im Livestream

Wie die sogenannte Samtene Revolution die Medien in Armenien veränderte.
Reportage Von

»Die Regierung hat keine Kommunikationsstrategie. Es ist alles nur noch auf Facebook.« Scharfe Kritik an der derzeitigen Regierung Armeniens wird laut. Die Chefredakteurin des unabhängigen Online-Magazins EVN Report aus der Hauptstadt Eriwan scheint recht zu haben. Armenien hat nach der Samtenen Revolution 2018 eine noch chaotischere Mediensituation als vorher.
Nach einer rumpeligen Fahrt in einem kleinen Fahrstuhl gelangt man in das Büro von Maria Titizian, Chefredakteurin dieses unabhängigen englisch- und armenischsprachigen Online-Magazins für Politik, Wirtschaft und Kultur. Im Wohnzimmer der umgestalteten Wohnung in einem alten Sowjetgebäude sitzen drei junge Journa­listinnen an ihren Laptops. Sie sind in ihre Arbeit vertieft. »Wir müssen unsere Arbeit gut machen«, sagt die müde Chefredakteurin, »das ist unsere einzige Lösung für die verwirrende Presse­situation momentan.«

Ministerpräsident Nikol Paschinjan und das Parlament kommunizieren regelmäßig online und senden noch immer ein- bis zwei­mal wöchentlich Facebook-Livestreams.

Im Frühjahr 2018 kam es zu Protesten in Armenien. Der damalige Ministerpräsident Sersch Sargsjan, der zuvor bereits zehn Jahre Staatspräsident war, trat nach lediglich einer Woche im Amt zurück. Große Demonstrationen und Blockadeaktionen waren die Ursache. Der Journalist Nikol Paschinjan führte diese Proteste an und und wurde im Mai 2018 Ministerpräsident. Nach Streitigkeiten mit seinen Ministern trat er fünf Monate später zurück, wurde aber im Dezember mit einer Mehrheit von 70 Prozent wiedergewählt. Seine seit Januar amtierende Regierung hat eine ungewöhnliche Herangehensweise, mit der Bevölkerung zu kommunizieren: Livestreams auf Facebook. Über diese und riesige Gruppenchats auf der Plattform Telegram hatten die Protestierenden die Straßenblockaden und Demonstrationen 2018 organisiert. Diese Strategie wird zurzeit weiterverfolgt. Ministerpräsident Nikol ­Paschinjan und Parlamen­tarier kommunizieren ­regelmäßig online und senden noch immer ein- bis zweimal wöchentlich Live­streams auf Facebook. Bei Live-Sendungen können die Aussagen nicht von Medien verändert oder interpretiert werden.

Die zur Redaktion umfunktionierte Wohnung passt für ein progressives Online-Magazin. Der Heilige Mesrop Maschtoz, nach dem die Straße, auf die man aus den Redaktionsräumen über einen Park hinweg blickt, benannt ist, soll das armenische Alphabet erfunden haben. Maria Titizian kommt in Fahrt: »Indem die amtierenden ­Politiker alles live machen, wählen sie genau aus, welche Fragen sie beantworten. Sie veranstalten keine Pressekonferenzen mehr und müssen so nicht auf die kritischen Fragen von ausgebildeten Journalisten antworten.« Sie verstehe das Misstrauen gegen die traditionellen Medien zwar – bis vor der Revolution wurden Fernsehsender von der Regierung kontrolliert und die Inhalte der Sendungen gesteuert –, jedoch mache die Vorgehensweise der Regierung die journalistische Arbeit schwierig. Zudem droht allzu scharfe Kritik an dem neuen Ministerpräsidenten alten Seilschaften in die Hände zu spielen. »Die alte Regierung von Sargsjan will der neuen immer noch zeigen, dass diese das Land nicht lenken kann. Wir sind zu einer Art Selbstzensur gezwungen, um den alten Kräften nicht in die Hände zu spielen«, sagt die Journalistin, die seit 15 Jahren in der armenischen Presse arbeitet. »Das verhindert aber leider eine richtige Diskussion. In diesem ›Kampf‹ gibt es nur schwarz und weiß. Das müssen wir bald ändern.«

Hier fanden während der »Samtenen Revolution« 2018 große Demonstrationen statt: der Platz der Republik in Eriwan

Hier fanden während der »Samtenen Revolution« 2018 große Demonstrationen statt: der Platz der Republik in Eriwan

Bild:
Anne Frieda Müller

Misstrauen gegen traditionelle Medien

Auch im Eriwaner Presseclub wird die neue mediale Entwicklung in Armenien kritisch beobachtet. Im Konferenzraum zählt Boris Navasardian bei Kaffee und Keksen die neuen Herausforderungen für armenische Journalisten auf: »Dass die neue Regierung das Internet nutzt, um mit den Menschen zu sprechen, liegt am allgemeinen Misstrauen gegen die traditionellen Medien in ­Armenien. Gedruckte Zeitungen sind völlig überflüssig, sie werden nicht mehr gekauft und gelesen.« Bereits einer Studie des Eriwaner Presseclubs aus dem Jahr 2002 zufolge hatte die größte Tageszeitung Armeniens, Aravot (Der Morgen), nur eine Auflage von 5000 bis 6000 Exemplaren. Es ist davon auszugehen, dass die Auflage weiter gesunken ist.
Hinzu kommt, dass die Rundfunkmedien nicht mehr von der Regierung kontrolliert werden. Ministerpräsident Paschinjan, der selbst Journalist ist, ­beabsichtigt das auch gar nicht, wie er schon 2018 in einer Weihnachtsrede ­erklärte. Das ist in Armenien neu und wird als Fortschritt gesehen. Das armenische Fernsehen funktioniert noch nach alten Mustern. »Die Fernsehsender versuchen zu erraten, was die Regierung tun will und tun wird«, sagt der Präsident des Eriwaner Presseclubs. Ein großes Problem bei den Radiosendern sei, dass die Besitzverhältnisse nicht transparent sind. Journalisten drängten deswegen auf ein neues ­Gesetz, das dazu zwingen soll, die Besitzverhältnisse bei Medien offen­zulegen. Das sei wichtig, um herauszufinden, wer hinter den präsentierten Nachrichten stehe. Dadurch soll deutlich werden, wer als Chefredakteur Druck auf Journalisten ausübt und ob diese Chefredakteure eventuell Anhänger der alten Regierung sind. Um dessen Einflussnahme zu vermeiden, stelle die derzeitige Regierung viel mehr selbst ins Netz und berichte live.

Fake News überall

Der Freedom-House-Bericht hat im Jahr 2018 nach der Revolution das Internet in Armenien zum ersten Mal als unzensiert eingestuft. Doch mit der neuen Freiheit, zu sagen und zu posten, was immer man will, wächst in Armenien ein neues Problem, das in der restlichen Welt schon länger existiert: Fake News und Hate Speech.

Das Internet ist ein Ort ohne jegliche Regierungskontrolle. »Vielleicht ist das Internet sogar zu frei«, scherzt Grigor Yeritsjan, Geschäftsführer der NGO Armenische Progressive Jugend. Wie bei den meisten armenischen Nichtregierungsorganisationen befindet sich das Büro der Progressiven Jugend außerhalb des Eriwaner Stadtzentrums, auf einem kleinen Hügel. Die Räume der 2007 gegründeten Organisation erstrecken sich mittlerweile über zwei Etagen. Im zweiten Stock befindet sich eine Küche mit integriertem Kon­ferenzraum. Der Raum ist lichtdurchflutet, der Blick aus den großen Fenstern wäre schön, hinge über der Stadt nicht durchgängig ein Smogschleier. Zumindest sieht man noch den Obelisken, der zur Museumsanlage zum ­Gedenken an den Genozid an den Armeniern gehört (Jungle World 16/2018). Seit 2012 plant und veranstaltet die NGO Austauschtreffen mit armenischen und türkischen Jugendlichen. Yeritsjan ist hier der Chef. Der junge, selbstbewusste Mann spricht ruhig, aber bestimmt und hat selbst bei heiklen Themen ein Lächeln auf den Lippen. Zur Rolle von Facebook in der armenischen Gesellschaft sagt er: »Vor der Revolution galt Facebook als zuverlässige Informationsquelle in Armenien, aber nach der Revolution sind Fake News, Hate Speech und Propaganda überall.« Er appelliert: »Jeder muss auf sein kritisches Denken vertrauen, egal was man heutzutage online sieht.«

Die NGO Union of Informed Citizens betreibt die erste und bislang einzige Website zur Überprüfung von Fakten in Armenien.

Ein paar Kilometer weiter am Rande des Stadtzentrums befinden sich in ­einem riesigen Gebäudekomplex, der von einem Pförtner bewacht und dessen Tür mit einem Zahlencode gesichert ist, die Räume des Komitees zum Schutz der Meinungsfreiheit. In diesen liegt auch das Büro von Ashot Melikjan. Der studierte Journalist ist ein höflicher älterer Herr, der es bevorzugt, Russisch zu sprechen; das könne er besser als Englisch. Er hat in Moskau studiert, zu einer Zeit, als Armenien und Russland noch Republiken der Sowjetunion waren. Hinter den weißen Lamellenvorhängen wird es langsam dunkel. »Es gibt kein zu freies Internet. Unsere Meinungsfreiheit wird aus schlechten Gründen missbraucht und die Regeln der Ethik werden missachtet«, sagt er. Die Freiheit im Internet diene in gewisser Weise sogar einem unerklärten Krieg gegen die neue Regierung. Trotzdem sei es besser, sich mit Fake News und Propaganda auseinanderzusetzen, als die freie Meinungsäußerung auf­zugeben. Einschränkungen hält Melikjan nicht für sinnvoll: »Die Demokratie in Armenien ist zu jung, um Regulierungen des Internets auszuprobieren. So ein Vorgehen soll erst einmal der Westen testen, in dem demokratische Werte schon mehr gefestigt sind als hier.« Sollte eine Lösung für das Phänomen Fake News gefunden werden, könnte Armenien diese dann auch nutzen. »Aber niemals auf Kosten der Meinungsfreiheit!«

 

Überprüfen, was man liest

An einer möglichen Lösung für das ­Problem falscher Nachrichten wird in ­einem Häuserblock auf der anderen Seite der Stadt geforscht, der die NGO Union of Informed Citizens (UIC) beherbergt. Hier geht es um Medienkompetenz, darum, Medien verantwortungsbewusst zu nutzen und die verbreiteten Nachrichten im Zweifelsfall zu überprüfen. In einem kleinen Land wie Armenien mit einer Bevölkerung von nur drei Millionen Menschen ist Medienkompetenz besonders wichtig, weil sich falsche Nachrichten dort schneller verbreiten als in größeren Ländern.

Daniel Ioannisjan fungiert als Programmdirektor der UIC. Im Jahr 2013 verließ er die Politik, in der er unter anderem als Parlamentsmitarbeiter für die Opposition an Reformen der Strafgesetze gearbeitet hatte, und gründete die NGO, die überwiegend aus Politikwissenschaftlern, Juristen und Analysten besteht. Vor allem kümmert sie sich um Wahlbeobachtung und Bürgeraufklärung, sie betreibt ­zudem die erste und bisher einzige Web­site zur Überprüfung von Fakten in Armenien.
In dem schmucklosen Konferenzraum hängen nur das Logo der NGO und ein paar Urkunden, die deren gute Arbeit loben. Daniel Ioannisjan hat dunkle Augenringe und sieht erschöpft aus, spricht aber mit fester Stimme. Seine wichtigste Regel: Normale Menschen sollen alle Fakten überprüfen können. Dafür stellen die Analysten und Journalisten zu jedem überprüften Text eine Liste mit nützlichen Quellen zur Verfügung, Quellen, auf die jeder und jede Zugriff hat. »Unsere Leserschaft soll die Fakten selbst nachrecherchieren können. Somit wollen wir die Gesellschaft dazu anregen, alles, was sie liest, zu überprüfen«, sagt er.

Ob diese Idee fruchtet, ließ Ioannisjan im Juni und Juli 2019 in einer Studie testen. In computergestützten Interviews wurden 1 200 Menschen aus allen Regionen Armeniens, gewichtet nach der Einwohnerzahl der jeweiligen Region, zu ihrem Medienkonsum und ihrer Medienkompetenz befragt. Lediglich 15 Prozent der Befragten lesen demnach überhaupt Zeitung; das korrespondiert mit den geringen Auflagenzahlen. Hingegen nutzen mittlerweile 74 Prozent der Befragten das Internet. Das Training zur Medienkompetenz scheint erste Erfolge zu zeigen: Immerhin zwölf Prozent aller Befragten gaben an, Informationen immer mit verschiedenen Quellen zu vergleichen; zumindest ­versuchten sie es. 19 Prozent der Befragten überprüfen die Informationen »oft«. Die Studie zeigt auch, dass Menschen mit höherem Bildungsgrad über eine höhere Medienkompetenz verfügen.

Die Union of Informed Citizens hat also noch viel zu tun. Vor zwei Jahren überprüften noch zwei Redakteure die Fakten, mittlerweile arbeiten acht Personen daran und es sind immer noch nicht genug, um alle wichtigen Nachrichten schnell genug zu überprüfen. Ein Problem ist, dass große Medien oft Fake News übernehmen. Ioannisjan meint zum Abschluss: »Wenn wir den Kampf gegen Propaganda und Fake News verlieren, werden wir die Demokratie verlieren.«

Die Recherche wurde vom Verein Deutsche Gesellschaft e. V. gefördert.