Warum die Proteste gegen Woody Allens Memoiren Moralismus sind

Fakten und andere Kleinigkeiten

Die Forderungen an Verlage, die Autobiographie des Filmemachers Woody Allen nicht zu drucken, sind durchtränkt von einem Moralismus, der an Allen lediglich ein Exempel statuieren will. Sinnvoller wäre es, sich mit den Tatsachen zu beschäftigen.

Am 2. März gab die New Yorker Verlagsgruppe Hachette Book Group (HBG) bekannt, dass sie im April die Memoiren des Regisseurs, Autors und Schauspielers Woody Allen unter dem Titel »Apropos of Nothing« veröffentlichen würde. Nur vier Tage später, am 6. März, zog Hachette die Veröffentlichung zurück.

Allens Sohn Ronan Farrow drohte am 3. März, seine Zusammenarbeit mit HBG zu beenden, würde auch nur ein zur Verlagsgruppe gehörendes Haus die Memoiren seines Vaters veröffentlichen. Farrow ist ein wichtiger Autor des Verlags, sein Buch »Catch and Kill« über die Weinstein-Affäre erschien bei Little Brown and Company, einem zu HGB gehörenden Verlag, und gewann 2019 den Pulitzer-Preis.

Dem Wust aus Widersprüchen, Feindseligkeiten und Interessen im Fall Woody Allen kann man mit Moral und vorschneller Verurteilung nicht beikommen

Farrow hatte sich immer wieder kritisch über seinen Vater geäußert, Allens Adoptivtochter Dylan wärmte 2018 alte Vorwürfe wieder auf, Woody Allen habe sie als Siebenjährige sexuell in einem Landhaus in Connecticut missbraucht. Ein rechtsmedizinisches Gutachten entlastete Allen, ein Gericht sprach ihn 1992 frei, entzog ihm aber das Sorgerecht für seine drei Kinder Dylan, Moses und den leiblichen Sohn Sachel, heute Ronan Farrow. Aus dem 33seitigen Urteil spricht Prüderie, die schon das Eincremen des nackten Kindes am Strand und das Nebeneinanderliegen von Vater und Tochter in Unterwäsche als Indikator »grob unangemessenen Verhaltens« sah.

Das Sorgerecht bekam Schauspielerin Mia Farrow zugesprochen, mit der Allen zwölf Jahre liiert gewesen war und mit der er 13 Filme gedreht hatte. Im späteren Verlauf ihrer Beziehung lernte Allen Farrows Adoptivtochter aus erster Ehe kennen, für die er sie dann verließ. Mia Farrow erfuhr von der Affäre zwischen der 1992 21jährigen Soon-Yi Previn und dem damals 56jährigen Woody Allen durch pornographische Polaroids der nackten Previn, die in Allens New Yorker Wohnung herumlagen, pikanterweise noch während des Drehs von »Husbands and Wives«, in dem Allen und Farrow ein Paar spielten. Allens Figur ist in dem Film verguckt in eine 21jährige Studentin, gibt dem aber nicht nach. Previn und Allen heirateten 1997.

Wer Mia Farrows Memoiren »What Falls Away« liest, lernt eine Philanthropin, eine begnadete Schauspielerin aus einer Familie alten Hollywood-Adels und eine sich aufopfernde Mutter von drei leiblichen und acht adoptierten Kindern kennen. Wer hingegen liest, was Moses Farrow in seinem Essay »A Son Speaks Out« schrieb, schaut in Abgründe: Der Großvater, Regisseur John Farrow, war Alkoholiker und chronischer Fremdgänger, die Großmutter Maureen O’Sullivan (die 1932 in »Tarzan« die Jane spielte) war trunk- und drogensüchtig, Onkel John Farrow jr. sitzt wegen sexueller Belästigung von Kindern im Gefängnis. 21jährig heiratete Farrow den Sänger Frank Sinatra, damals 50. Zwei Jahre hielt die Ehe.

Nach der Ehe mit dem Komponisten André Previn teilte Farrow ab 1980 ihr Leben mit Woody Allen, adoptierte Moses und Dylan und bekam Ronan Farrow. Moses Farrow wurde Familientherapeut. In dem, was er über die Familie Farrow schrieb, erscheint der Fall in einem anderen Licht. Moses zufolge schlug Mia Farrow ihn wegen Nebensächlichkeiten oder ließ ihn nackt vor Geschwistern stehen, weil er sich Laschen von seiner Jeans geschnitten hatte. Entschuldigungen musste er ein Dutzend Mal einstudieren. Den poliokranken Adoptivbruder Thaddeus sperrte Farrow laut Moses im Schuppen ein. Meistens hätten ihre Schikanen aber seine ältere Adoptivschwester Soon-Yi getroffen, berichtet Moses. Als 1992 der Sorgerechtsstreit und die Beziehung zwischen Woody Allen und Soon-Yi Previn begann, habe Mia Farrow den Kindern über Soon-Yi gesagt: »She is dead to us.« Über Woody Allen soll sie ihren Kindern gesagt haben, er sei der Teufel.

Diesem Wust aus Widersprüchen, Feindseligkeiten und Interessen kann man mit Moral und vorschneller Verurteilung nicht beikommen. Medien und Öffentlichkeit sollten sich deshalb eher zurückhalten. Natürlich kann man kritisch nachfragen, doch die Schuldfrage wird von einem Gericht geklärt. Hatte die Beziehung zwischen Farrows Adotivtochter Soon-Yi Previn und Woody Allen ein heftiges Gschmäckle? Durchaus. Widersprach sie aber geltenden Gesetzen? Nein. Hat Woody Allen sexuellen Kontakt zu einer Minderjährigen gehabt? Nein. Hat das eine mit dem anderen etwas zu tun? Ebenfalls nein. Ist ein Verlag moralisch verkommen, wenn er ein Buch von Woody Allen veröffentlicht, obwohl er auch Ronan Farrow verlegt? Nein. Vielleicht noch so ein Gschmäckle, ja. Aber es wäre publizistisch verwerflich, es gar nicht zu drucken.

In diesem Sinne äußerte sich am 9. März auch Manuel Carcassonne, der Leiter von Édition Stock, dem Pariser Zweig von Hachette Livre, dem Mutterkonzern der HBG. Carcassonne sagte dem Magazin Le Point über Hachettes Rückzug: »Es ist bedauernswert, dass diese Entscheidung getroffen wurde – bedauernswert für die Redefreiheit, aber absolut verständlich im amerikanischen Kontext.« Der Verlagschef kündigte an, die französische Version von »Apropos of Nothing« zu drucken.

Die US-amerikanische Öffentlichkeit ist bekannt dafür, schnell moralisch brüskiert zu sein. So wundern sich Fachleute wie Carcassonne nicht, wenn eine Verlagskette Meinungs- und Ausdrucksfreiheit samt dem, was man ausgeglichene Berichterstattung nennt,  dem moralischen Imperativ einer Twitterblase opfert. Der großteils einseitig geführte Generationenkrieg zwischen Boomern und Millennials tut ein Übriges. In diesem Konflikt werden nebenbei mit Allens Manuskript die Veröffentlichung von 85 Jahren jüdisch-amerikanischer Zeitzeugenschaft, Randnotizen zur modernen Filmgeschichte und zahllose humorvolle, intellektuelle Beobachtungen in Frage gestellt.

Woody Allen hat erlebt, wie Brooklyn wuchs, der Broadway niederging, das alte Hollywood starb und Kino digital wurde. Er schrieb einige der besten Frauenrollen und Frauengeschichten der Filmgeschichte. Der von Diane Keaton verkörperte Frauentypus ist dank Allen ikonisch für Generationen selbstbestimmter Frauen geworden. »Ich habe stets Angst, wenn ein Mob, egal wie klein oder belesen, ohne Rechenschaft, Prozess oder Entschädigung Macht ausübt. Das beängstigt mich mehr als die Aussicht auf Woody Allens Autobiographie in den Bücherregalen«, schrieb die Journalistin Jo Glanville über die Kampagne gegen »Apropos for Nothing« im Guardian, weil sie trotz Vorbehalten sein Buch lesen will.

In Deutschland drängen seit dem 8. März einige Autorinnen und Autoren in einem offenen Brief ihren Verlag Rowohlt, der auch Woody Allen veröffentlicht, das neue Buch ebenfalls abzulehnen. Gerade für feministisch denkende Frauen war der schnelle Moralismus vieler US-Amerikaner eigentlich immer ein Angriffspunkt in antiamerikanischen Argumentationen. Heute indes springen Frauen solchen Pseudomoralisten zur Seite. Die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner stellen stattdessen Gerichtsentscheidungen in Frage und fühlen sich auf dem Terrain von Gerücht und Hörensagen wohl, was dazu führt, dass sie juristische Grundwerte wie die Unschuldsvermutung glatt ignorieren. Wer zudem noch fordert, die Fakten in einer unveröffentlichten Autobiographie zu überprüfen, wie es Ronan Farrow tat und wie die Unterzeichner des offenen Briefs ebenfalls tun (alles andere sei »unethisch«), sollte zumindest selbst in der Lage sein, 28 Jahre alte juristische Fakten zu recherchieren und zu akzeptieren. Dass Schriftsteller tatsächlich einen Faktencheck bei einer Autobiographie fordern, ist allerdings schon grundsätzlich absurd.

Die Unterzeichner sind dagegen, »zu den alten Verhältnissen zurückzukehren«, und stellen dabei doch nur einem Intellektuellen ein Bein, der viel auch in ihrem Sinne zu sagen hat. Der Glaube, den Kampf gegen strukturelle Unterdrückung gewinnen zu können, indem Männer wie Woody Allen stellvertretend für das Patriarchat angeklagt werden, kann nur immer wieder den Vorwurf der Hexenjagd hervorrufen, weil das nichts als pseudoemanzipatorisches Voodoo ist und bestenfalls das Unvermögen ausdrückt, die eigene feministische Position in mehr als nur symbolischen Aktionen zu zeigen.

Der Rowohlt-Verlag reagierte am 12. März mit der Mitteilung, an der Veröffentlichung von Allens Buch festzuhalten. »Ganz nebenbei«, so der deutsche Titel, wird am 7. April erscheinen.