Angesichts der Wirtschaftskrise, die die Coronapandemie verursachen dürfte, mutet die Finanz- und Eurokrise vor rund einem Jahrzehnt fast wie ein harmloses Geplänkel an.

Das Geld kommt von oben

Die Coronapandemie verursacht eine globale Wirtschaftskrise – und politische Kehrtwenden. Deutschland verabschiedet sich von der »schwarzen Null«, die EU-Kommission gibt ihre Defizitkriterien auf und US-Präsident Donald Trump erwärmt sich für den Sozialstaat.

Was noch vor kurzem undenkbar schien, ist plötzlich möglich. Innerhalb weniger Wochen eskaliert die Wirtschaftskrise, die droht, selbst die »Great Depression« in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts zu übertreffen. Die Finanz- und Eurokrise vor rund einem Jahrzehnt mutet dagegen fast wie ein harmloses Geplänkel an. »Ich fürchte, diese Rezession wird die Mutter aller Rezessionen«, sagte Gabriel Felbermayr, der Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft, dem Handelsblatt. Der OECD-Generalsekretär José Ángel Gurría mahnte, die sogenannte Coronakrise sei »der dritte und größte wirtschaftliche, finanzielle und soziale Schock des 21. Jahrhunderts« und erfordere »moderne weltweite Anstrengungen, vergleichbar mit dem Marshall-Plan und dem New Deal zusammen«.

Schulden zu machen, gilt jetzt nicht mehr als Eingeständnis staatlichen Versagens, sondern als Gebot der Stunde.

Die Warnungen sind mehr als angebracht, denn die Kombination aus Nachfrage- und Angebotsrückgang legt weltweit die Wirtschaft lahm. Wie gravierend dieser Effekt ist, zeigt sich an den Börsen. Noch nie fielen die Indizes in so kurzer Zeit so tief. Der Dax verlor innerhalb von vier Wochen rund 40 Prozent. An den Handelsplätzen in New York oder Tokio sieht es nicht viel anders aus. Und die Gegenmaßnahmen zeigen bisher wenig Wirkung. Wie zuletzt bei der Finanzkrise 2008 senkten die Zentralbanken weltweit ihre Leitzinsen. Doch das hielt nur wenige Tage vor, die Kurse fielen weiter.

Seit klar ist, dass der wirtschaftliche Ausnahmezustand noch monatelang anhalten kann, haben sich die Prämissen geändert. Millionen Menschen können nicht mehr arbeiten und somit auch kein Einkommen mehr erzielen. Vor allem Selbständige und Beschäftige im Dienstleistungsgewerbe sind betroffen. In der Industrie fallen massenhaft Aufträge weg, Unternehmen wie VW oder BMW stellen die Produktion ein.

Die Bundesregierung hat nun 156 Milliarden Euro neue Schulden aufge­nommen, um die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie abzumildern. Zusätzlich will der Bund Garantien im Umfang von 600 Milliarden Euro bereitstellen. Damit summieren sich die staatlichen Hilfen gegen die Folgen der Coronakrise auf 756 Milliarden Euro. Die »schwarze Null«, also ein ausgeglichener Staatshaushalt, bislang ein Fetisch deutscher Finanzpolitiker, ist damit passé. Zum ersten Mal seit langem stiegen vergangene Woche die Zinsen für die deutsche Staatsanleihen. Die Zeiten, in denen Deutschland als sicherer Ort für Kapitalanleger galt, scheinen sich dem Ende zuzuneigen.

Vorbei sind auch die Zeiten, in denen die Europäische Kommission strikt an den Defizitkriterien für die Euro-Staaten festgehalten hat, ohne sie jedoch in vollem Umfang durchsetzen zu können. Weil in allen EU-Staaten wegen der Hilfsmaßnahmen die Schulden erheblich steigen, droht eine ähnliche Lage wie zuletzt 2008, als Griechenland und Spanien kurz vor der dem Staatsbankrott standen. Christine Lagarde, die Präsidentin der Europäischen Zentralbank (EZB), erklärte deshalb, dass »der Verpflichtung zum Euro keine Grenzen gesetzt sind«. Eine neue Staatsschuldenkrise soll um jeden Preis verhindert werden. Mit ihren nahezu unbegrenzten Staatsanleihenkäufen hat die EZB den Weg für zinsgünstige Konjunkturprogramme in bislang ungeahnter Höhe freigemacht. Alle Stabilitäts- und Schuldenkriterien, die jahrelang unerbittlich verteidigt wurden, sind damit Makulatur. Schulden zu machen, gilt jetzt nicht mehr als Eingeständnis staatlichen Versagens, sondern als Gebot der Stunde.

Das zeigt sich auch in einem Aufruf, den vergangene Woche die wichtigsten deutschen Ökonomen in der FAZ ver­öffentlichten. Darin fordern sie die EZB dazu auf, einen europäischen Fonds in Höhe von einer Billion Euro einzurichten, um die Auswirkungen der Pandemie zu bewältigen.

»Gemeinschaftsanleihen sind jetzt notwendig, um die Kosten der Krise auf viele Schultern zu verteilen«, heißt es darin. Unterzeichnet wurde der Aufruf auch von dem arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft, das bislang gemeinsame Anleihen vehement abgelehnt hat. Die EU-Kommission zieht bereits die Einführung von sogenannten Corona-Bonds in Erwägung. Bislang sperren sich allerdings die Nordeuropäer, angeführt von Deutschland und den Niederländern, gegen diese Pläne.

Noch einen Schritt weiter geht die Bank of England, die nun »unbegrenzt Geld auf den Markt werfen« will, wie ihr Präsident, Andrew Bailey, vergangene Woche ankündigte. Britische Unternehmen können sogenannte commercial papers ausgeben, die die Bank mit neu ausgegebenem Geld kauft. Bislang erwarb die Zentralbank Schuldpapiere nur über den Anleihenmarkt, um den Eindruck zu vermeiden, sie würde Staaten und Unternehmen unmittelbar finanzieren. Jetzt kommt die Notenpresse direkt zum Einsatz.

Ein radikaler Wandel vollzieht sich derzeit auch in den USA, wo Präsident Donald Trump angekündigt hat, allen US-Bürgern einen Scheck in Höhe von 1 200 US-Dollar zu senden, vorausgesetzt, sie verdienen weniger als 99 000 US-Dollar im Jahr. Zudem sind umfangreiche Hilfen für Unternehmen vorgesehen, die unter der Coronakrise leiden. Insgesamt beträgt das Finanzvolumen der Hilfsprogramme rund zwei Billionen US-Dollar.

Das Vorhaben kommt dabei dem sogenannten Helikoptergeld sehr nahe; als solches bezeichnet man Geld, das die Bürger Geld erhalten, ohne Gegenleistungen erbringen oder besondere Kriterien erfüllen zu müssen, um den Konsum anzufachen. Die Idee stammte ursprünglich von dem neoliberalen Ökonomen Milton Friedman, der sie bereits Ende der sechziger Jahre formulierte. Seiner Ansicht nach sollte das Geld von der Zentralbank zur Verfügung gestellt werden, um die Rolle des Staates zu minimieren. Im Gegensatz dazu sollen die geplanten Zahlungen zwar aus dem laufenden Haushalt finanziert werden, faktisch ist dies jedoch nur möglich, wenn sich die US-Regierung weiter verschuldet – am Ende wird auch hier die Notenpresse zum Einsatz kommen.

Diese Art der Staatsfinanzierung ist eine wirtschaftspolitische Kehrtwende, weil sie die Abhängigkeit der Staatshaushalte von Kreditgebern und Gläubigern außer Kraft setzt. Früher oder später, so das Credo der meisten Ökonomen, müsse bei einer unkontrollierten Erhöhung der Geldmenge unweigerlich eine Hyperinflation einsetzen. Die Erfahrung aus der vergangenen Finanzkrise scheint dies aber nicht zu bestätigen. Damals pumpten die Regierungen in den USA und in Europa mehrere Billionen Euro in den Finanzsektor. Die Aktienkurse und die Immobilienpreise stiegen, weil die Kapitalbesitzer und Unternehmen die zinslosen Kredite bevorzugt in diesen Bereichen in­vestierten. Kaum verändert hat sich hingegen, allen Prophezeiungen zum Trotz, die Inflationsrate.

Der US-Regierung wird auch kaum etwas anderes übrigbleiben, als Geld flächendeckend zu verteilen. Ein signifikanter Teil der Bevölkerung hat weder Zugang zu einer ausreichenden Gesundheitsversorgung noch zu Sozialleistungen. Ohne Unterstützung durch die Regierung werden Millionen US-Bürger, die aufgrund der Coronakrise ihre Arbeitsplätze verloren haben oder verlieren werden, kaum dauerhaft leben können. Eine überaus beunruhigende Aussicht in einem Land, in dem viele Bürger derzeit nicht nur Toilettenpapier, sondern auch Waffen hamstern.

Praktisch über Nacht entdeckt die US-Regierung daher den Sozialstaat. Ein neuer Gesetzentwurf schreibt nun landesweit die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall vor – ein in der Geschichte der USA fast beispielloser Vorgang. Die bescheidenen Leistungen der Arbeitslosenversicherung sollen steigen und Bürger ohne Krankenversicherung Zuschüsse erhalten. Noch vor kurzem plante die Regierung, die Sozialleistungen zu kürzen, um den Bau der Mauer an der Grenze zu Mexiko zu finanzieren. Jetzt geben die Republikaner ihren jahrzehntelangen Kampf gegen bessere Sozialleistungen auf und wollen die Entwürfe »in Warp-Geschwindigkeit«, so der republikanische Mehrheitsführer im US-Senat, Mitch McConnell, in die Tat umsetzen.

Die Pläne entsprechen in einigen Punkten den Forderungen, mit denen die demokratischen Präsidentschaftsbewerber Joe Biden und Bernie Sanders in den Wahlkampf ziehen. Gut möglich, dass wegen Covid-19 einige ihrer zentralen Vorhaben nun ausgerechnet von jenem Präsidenten verwirklicht werden, der sie bislang so vehement bekämpft hat.