Der Attentäter von Hanau stand eher dem alten Rechtsextremismus als der »Neuen Rechten« nahe

Rassismus ist politisch

Der Täter von Hanau war in seiner Vorgehensweise ein Attentäter neuen Typs, ideologisch stand er eher dem alten Rechtsextremismus als der »Neuen Rechten« nahe. Es gibt keine Rechtfertigung dafür, seinen Terroranschlag zu entpolitisieren.

Am 19. Februar erschoss Tobias R. in Hanau neun Menschen, die er für nichtdeutsch hielt, anschließend seine Mutter und sich selbst (Jungle World 9/2020). Vor der Tat hatte er ein Manifest veröffentlicht, in dem er von »Rassen« spricht und eine Säuberung fordert, der ganze Nationen sowie der nicht »reinrassige« Teil der deutschen Bevölkerung zum Opfer fallen sollen. Die Sache scheint also simpel zu sein: Der Attentäter war ein rechtsextremer Terrorist.

Aber diese Schlussfolgerung wollen nicht alle teilen, vorneweg die AfD, die aus dem Attentäter einen psychisch Kranken machen will, um von der inhaltlichen Nähe zwischen dessen Ma­nifest und ihren eigenen Positionen abzulenken. Vorgemacht hat das Gottfried Curio, der innenpolitische Sprecher der AfD-Bundestagsfraktion, während der Parlamentsdebatte am 5. März über den Anschlag in Hanau, als er dem Täter eine Psychose attestierte.

MDR, NDR und Süddeutsche Zeitung berichteten, auch das Bundeskriminalamt (BKA) sei zu dem Schluss gekommen, dass es sich bei Tobias R. nicht um einen rechtsextremen Täter handele. Es habe sich zwar um eine rassistische Tat gehandelt, aber R. sei kein Rechtsextremist gewesen. Er habe, fasst die Süddeutsche Zeitung die Einschätzung zusammen, »seine Opfer vielmehr ausgewählt, um möglichst viel Aufmerksamkeit für seine Verschwörungstheorie zu bekommen. Rassismus sei nicht das Hauptmotiv von Tobias R. gewesen, so die BKA-Ermittler.« Es sprächen »keine Indikatoren« dafür, dass »R. ein Anhänger einer rechtsextremistischen Gesinnung« sei. Das BKA hat mittlerweile dementiert, zu dieser Einschätzung gekommen zu sein. Der Abschlussbericht des BKA ist bislang nicht veröffentlicht worden.

Dass der Attentäter in seinem Manifest rassistisch argumentiert, lässt sich nicht leugnen. Dass er seine Opfer nach rassistischen Kriterien auswählte, ebenso wenig. Es geht also um die Frage, ob er auch wirklich aus rechtsextremen Motiven handelte; eine Frage, die damit zusammenhängt, dass man es mit einem relativ neuen Tätertypus zu tun hat. Bei diesem handelt sich um Personen, die ihre Tat zwar allein ausführen, aber gut vernetzt sind – nur eben nicht mit einem lokalen Neonazimilieu, sondern online.

Das Dementi des BKA zu den Berichten der Süddeutschen Zeitung, des MDR und des NDR ist zu begrüßen. Man scheint aus der Vergangenheit zu lernen. Denn die Debatte erinnert frappierend an die über den rechtsterroristischen Anschlag am Münchner Olympia-Einkaufszentrum im Juni 2016, bei dem der Deutsch-Iraner David S. neun Menschen erschoss, die er für Nichtdeutsche, genauer Türken hielt. Damals kamen Staatsanwaltschaft und Landeskriminalamt in ihrem Abschlussbericht zu dem Schluss, der Täter sei geistig verwirrt und sozial isoliert gewesen und seine Tat nicht politisch motiviert (Jungle World 28/2018). Es dauerte drei Jahre und brauchte drei unabhängige Gutachten, bis diese Entpolitisierung revidiert wurde. Seit dem Oktober 2019 stuft das bayerische Landeskriminalamt die Tat als »politisch motivierte Gewaltkriminalität – rechts« ein.

Mittlerweile wurde die Vernetzung dieses angeblich isolierten Täters offengelegt. Online stand S. in Kontakt mit internationalen Anhängern der Alt-Right-Bewegung und Fans des norwegischen Massenmörders Anders Breivik. Auch bei Tobias R. könnten noch einige solcher Verbindungen auftauchen. Diese Täter mögen allein handeln, aber sie wissen sich in einer Gemeinschaft, die ihre Taten befürwortet. Es ist auch die Anerkennung dieser Gemeinschaft, die zu diesen Taten antreibt.

Auch wenn die Vernetzung dieser Täter neue Formen annimmt, nämlich online stattfindet – »ihre geistigen Grundlagen«, so die Rechtsextremismusexpertin Andrea Röpke in dem kürzlich erschienenen Sammelband »Rechte Egoshooter«, überschnitten sich »mit denen der ›alten‹ rechtsextremen Szene«. Das Manifest des At­tentäters von Hanau zeigt das nachdrücklich. Im Vordergrund steht darin eine wahnhafte Verschwörungstheorie. R. glaubte, er sei seit seiner Geburt von einem unbekannten Geheimdienst überwacht worden, der seine Gedanken gelesen und kontrolliert habe. R.s Ideologie war antisemitisch und rassistisch. Israel stand bei ihm auf einer langen Liste von »Völkern«, die vernichtet werden sollen. Den Islam bezeichnete er als »destruktiv«. Mit der Nennung der jihadistischen Anschläge vom 11. September 2001 als Schlüsselereignis knüpfte R. an kursierende Verschwörungsphantasien an.

Vieles von dem, was R. schrieb, hat mit gängigen rechtsextremen Mythen wenig zu tun. Schlüsselbegriffe wie etwa der »Große Austausch« fehlen. Viel mehr hat sein politischer Wahns mit den Ideen der alten Rechten gemein. In seinem Manifest verbindet er auf typische Weise Rassenwahn und Leistungsideologie. »Rassenunterschiede«, so R., seien »Leistungsunterschiede«. Deutschland galt ihm als »Land, aus dem das Beste und Schönste entsteht und herauswächst, was die Welt zu bieten hat«. Die Deutschen hätten »die Menschheit als Ganzes emporgehoben«. Allerdings sei nicht jeder Deutsche »wertvoll«, ­einige seien geradezu gefährlich und hätten sich »in ihrer Historie nicht als leistungsfähig erwiesen«. Notwendig sei deshalb eine »Fein-Säuberung« des eigenen Volks, wobei er von einer »Halbierung der Bevölkerungszahl« spricht.

Diese Verbindung von Rasse und Leistung ist eine rassistisch radikalisierte Variante des bürgerlichen Leistungsprinzips, die den deutschen Rechts­extremismus seit über 100 Jahren ausmacht. Der Nationalsozialismus begründete mit ihr nicht zuletzt sein Zwangsarbeitssystem. Der Glaube an eine deutsche Besonderheit war historisch stets mit der Drohung verbunden, im eigenen Volk »aufzuräumen«. Tobias R. versuchte, sich mit seinem Manifest in diese Geschichte des Rechtsextremismus einzuschreiben. Wer solche Gedanken vertritt, verbreitet und sie benutzt, um die Ermordung von Menschen zu rechtfertigen, der ist ein Rechtsextremer.