Ein Porträt der Band Ton Steine Scherben und ein Gespräch mit deren ehemaligem Schlagzeuger Wolfgang Seidel anlässlich des 50jährigen Jubiläums der Band

Ton, Steine, Scherben

Die Scherben waren Anfang der Siebziger die Band der Wahl für linksradikale Lehrlinge, aber auch die aufkommende Alternativbewegung. Ein kurzes Bandporträt zum 50jährigen Jubiläum.
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In den siebziger Jahren war Agitrock ein gebräuchlicher Genrebegriff. Nahezu jede bundesrepublikanische Band von wenigstens regionaler Bekanntheit, die sich damals daran versuchte, Deutsch – die Sprache der Wehrmacht – mit Rockmusik – der Konsequenz aus der Popkultur der US-amerikanischen und britischen Befreier – zusammenzubringen, legte noch mehr Wert auf politische Progressivität, als es ohnehin üblich war: Eine Weile lang, zumindest bis Udo Lindenberg kommerziell reüssierte, waren Deutschrock und Agitrock mehr oder minder dasselbe. Als Protagonist dieses Genres gilt zu Recht die Berliner Band Ton Steine Scherben, die den harten Freak-Rock der Detroiter MC 5 (»Kick out the Jams«) und den skeptischen Blick der Londoner Kinks auf den proletarischen Alltag (»Dead End Street«) mit zeitgenössischen radikalen Slogans (»Macht kaputt, was euch kaputtmacht«) verband.

»Warum geht es mir so dreckig« war denn auch das erste Album der Band betitelt, die damals aus den Musikern des Lehrlingstheaters Rote Steine bestand; jener Roten Steine, die im Spätsommer 1970 bundesweite Aufmerksamkeit erlangt hatten, als sie, so die Legende, mithalfen, kaputtzumachen, was sie betrogen hatte: nämlich beim Abfackeln der Bürocontainer und des Equipments der mit den Einnahmen des deutschen »Love & Peace«-Festivals auf Fehmarn getürmten Veranstalter. Diese Art von Bekanntheit machte die Band zwar zum Geheimtipp unzufriedener Lehrlinge und Schüler in der Bundesrepublik, schloss aber von vornherein einen Plattenvertrag mit einem großen Label aus, obwohl es wohl nie leichter war als damals, den seinerzeit einigermaßen desorientierten Musikkonzernen radikale oder obskure Musik unterzujubeln.

Zwei mit Heftklammern zusammengetackerte braune Pappkartons, amateurhaft und spärlich bedruckt, bildeten die Hülle, roh wie die Musik auf der Platte, die darinnen steckte.

Die Scherben machten aus der Not eine Tugend, veröffentlichten die Platte auf ihrem eigens dazu gegründeten Mini-Label »David Volksmund« und brachten sie auch gleich selber unter die Leute. »Schneeball« hieß der dafür gegründete Vertrieb (dessen Nachfolge dann Indigo angetreten hat), der in den ersten Jahren hauptsächlich aus den Schrottbussen der beteiligten Bands bestand, neben den Scherben etwa noch Embryo, Sparifankal oder Missus Beastly. Die Musiker schleppten Pappkartons voller LPs eigenhändig in die Plattenläden und versuchten die Inhaber zu überreden, die Platten in Kommission zu nehmen.

»Warum geht es mir so dreckig« – mit Wolfgang Seidel am Schlagzeug eingespielt – war deshalb, wenn man damals in der Provinz wohnte, nur recht schwer zu bekommen. Ohne Einkaufsfahrt in die nächste Großstadt, in der man auch noch den richtigen Shop kennen musste, gab es keine Schneeball-Platte. Die gewollte, militante Distanz zum business drückte sich auch in der, nun ja, Gestaltung der Platte aus: Zwei mit Heftklammern zusammengetackerte braune Pappkartons, amateurhaft und spärlich bedruckt, bildeten die Hülle, roh wie die Musik auf der Platte, die darinnen steckte: Seite eins enthielt Stücke der Liveaufnahme eines Scherben-Konzerts, das der Besetzung des Bethanien am Kreuzberger Mariannenplatz voranging, Seite zwei in einem Hinterhofstudio in der benachbarten Admiralstraße gemachte Aufnahmen.

Trotz schwieriger Bedingungen waren die Scherben spätestens ab jetzt die Band der Wahl für linksradikale Lehrlinge und Schüler, aber auch für die entstehende »Lumpenbourgeoisie«, so das im Nachhinein betrachtet nicht ganz unzutreffende Schimpfwort strammer Marxisten-Leninisten für die aufkeimende Alternativszene, zu denen auch die Bewohner des Rauch-Hauses auf Distanz blieben. Die Scherben begleiteten die wilden Streiks jener Jahre, die orga­nisierten Schwarzfahraktionen, die Hausbesetzungen der Jugendzentrumsbewegung – aber auch eben die selbstbezüglichen Handwerks- und Landwirtschaftsprojekte deutscher Späthippies. Eine inhaltliche Spannung, die sich in starken Schwankungen zwischen den Stücken auf den beiden folgenden Alben – »Keine Macht für niemand« (1972, im weißen Pappschuber) und vor allem »Wenn die Nacht am tiefsten« (1975, in durchsichtiger Plastiktüte) – niederschlugen: Sympathischer Proletkult stand, wie eben auch in der politisch-kulturellen Wirklichkeit der Mittsiebziger, dort nahezu unverbunden neben musikalisch-professionell ambitionierter produzierten Stücken, die mit sektenhaft anmutender Erlösungslyrik aufwarteten. Abseits davon lieferten Rio Reiser und die Scherben auch noch die Musik für die schwule Revue »Brühwarm«, die in der zweiten Hälfte der Siebziger skandalumwittert im deutschen Sprachraum tourte.

Die Scherben gingen in der Orientierungskrise nach 1975, die unmittelbar mit der ökonomischen Krise zusammenhing, schließlich nicht den Weg der Lehrlinge (damals eher in die Arbeitslosigkeit und die Umschulung als ins Paradies, von dem die Scherben sangen), sondern den der Alternativen: räumlich auf den Ökobauernhof nach Friesland, geistig in den boomenden Neomystizismus, musikalisch schließlich in den generalüberholten deutschen Schlager, die sogenannte Neue Deutsche Welle (NDW). Dass ausgerechnet Claudia Roth (ja, die Claudia Roth) auch noch in den letzten Jahren der Band Managerin wurde, fällt gegen die überaus schwachen, musikalisch wie textlich überflüssigen beiden letzten Alben der Scherben (1981: »IV«, 1983: »Scherben«) schon kaum mehr ins Gewicht. Dass Sänger und Mitgründer Rio Reiser Mitte der achtziger Jahre auf seine Weise tatsächlich Volkssänger wurde, parodierte dann auch noch bitter den einstmals revolutionär vorgetragenen Anspruch der Scherben, »Volksmusik« zu machen, wie sie ihn im Interview mit dem WDR 1971 an einer Kreuzberger Straßenecke formuliert hatten: »Wir wollen Volkslieder machen, sie können ein revolutionäres Moment sein.«

 


»Die einen bekamen das Anti und die anderen das Kapital …«

Für Musikkonzerne gibt es viele deutlich wichtigere 50jährige Jubiläen in diesem Jahr abzufeiern als das von Ton Steine Scherben. Andererseits gibt es keine andere Band, deren beliebteste Titel sich so lange in den Top Ten der Charts für Demo-Lautsprecherwagen gehalten haben und die noch heute gerne gecovert werden, wenn sich ein deutscher Popmusiker besonders radikal geben will. Der Scherben-Schlagzeuger Wolfgang Seidel wirft einen kritischen Blick zurück auf die Geschichte der Band und auf ihre sich im Lauf der Jahrzehnte verändernde Wirkung.

 

Wolfgang Seidel

Wolfgang Seidel

Bild:
Wolfram Jaob

Wolfgang Seidel, geboren 1949, aufgewachsen in Berlin-Kreuzberg, zu einer Zeit, als Studenten zumeist nicht links waren, und selbst wenn doch, nicht im Traum auf die Idee gekommen wären, aus dem kultivierten Charlottenburg ins plebejische Kreuzberg zu ziehen – in ein Viertel, das so wenig hip war wie heute Bottrop oder Pirmasens. Mit 16 begann er in Beatbands zu trommeln und stieß 1970 zum Lehrlingstheater Rote Steine, wo er auf Sänger Ralph Möbius (aka Rio Reiser), Gitarrist Ralph Peter Steitz (aka R.P.S. Lanrue) und Bassist Kai Sichtermann traf. Zusammen spielten sie einige Songs ein, die 1970 der ARD-Doku »Fünf Finger sind eine Faust« über die Apo unterlegt wurden. Zuschauer riefen an und fragten, ob man diese Musik irgendwo kaufen könne. So entstand im Sommer 1970 die Single »Macht kaputt, was euch kaputtmacht/Wir streiken«, die bislang namenlose Band nannte sich fortan Ton Steine Scherben. Seidel verließ die Scherben 1972, seine musikalischen Interessen galten nun eher der Avantgarde. Er musizierte zusammen mit Conrad Schnitzler, Mastermind des Zodiac Free Arts Lab am Halleschen Ufer in Berlin-Kreuzberg, für dessen Free-Jazz-Fluxus-Projekt Eruption, an dem auch beispielsweise Klaus Schulze (Mitbegründer von Tangerine Dream) und Manuel Göttsching (Ash Ra Tempel) mitwirkten. Der ehemalige Scherben-Drummer arbeitete mit Schnitzler bis zu dessen Tod 2011 und experimentiert bis heute im Bereich der improvisierten Musik; seine Brötchen verdient er allerdings damit nicht. Seidel ist Herausgeber und Beiträger des Sammelbandes »Scherben – Musik, Politik und Wirkung der Ton Steine Scherben«, das 2005 im Mainzer Ventil-Verlag erstmals erschien. Das lange nicht lieferbare Buch ist im Ventil-Verlag soeben wiederveröffentlicht worden (272 Seiten, 18 Euro), versehen mit einem neuen Vorwort von Wolfgang Seidel.

 

Das Rockgeschäft ist nicht erst seit gestern in der kommerziellen Hauptsache eine Retro-Branche. Eine Jubiläumsfeier, die auf die heroische Phase der Sechziger und Siebziger Bezug nimmt, jagt die nächste, meist begleitet von De-luxe-Boxen stilprägender Alben samt Studioabfall und Memorabilia-Klimbim. Kann das kommendes Jahr, wenn das erste Scherben-Album 50 wird, auch mit »Warum geht es mir so dreckig« passieren?

Das hat schon begonnen. Lustigerweise mit dem diesjährigen Kulturpreis der B.Z., wo die Band bei der Preisverleihung spielte. Wobei ich auf dem Foto nur Musiker sah (bis auf vielleicht einen im Hintergrund), die alle noch nicht geboren waren, als die Scherben gegründet wurden. Aus­gerechnet der B.Z.-Kulturpreis, das klingt etwas seltsam, oder? Aber der erste größere Zeitungsartikel über die Scherben samt Fotos grimmig ­blickender junger Männer erschien 1970 in der B.Z. – und das, als der Springer-Verlag der Lieblingsfeind der Außerparlamentarischen Opposi­tion (Apo) war. Die Band ließ sich darauf ein, weil man aus der linksradikalen Echokammer, wo man nur den Bekehrten predigt, rauswollte. Mit dem Auftritt bei der Preisgala sind die Scherben (wer immer sich dafür ausgegeben hat) in einer anderen Echokammer angekommen – jener der Hauptstadtschickeria.

Das Scherben-Jubiläum wird also eher politisch als kommerziell ausgeschlachtet?

Das kann man wohl sagen: Im Herbst ist als Höhepunkt des Jubeljahres die Umbenennung des Kreuzberger Heinrichplatz in Rio-Reiser-Platz geplant. Auf die Frage eines davon gar nicht begeisterten Anwohners, wieso nur der Sänger und nicht die Band genannt würde, gab es folgende Antwort: Bei Scherbenplatz würde niemand an die Band denken, sondern an den aktuellen Zustand der Örtlichkeit in einer Gegend, die unter Slumbildung und Ballermann-Tou­rismus leidet. Außerdem passe es zur Politik der Kreuzberger Grünen, die bekanntlich niemanden diskriminieren wollen, wenn zwischen zwei Hotspots des Drogenhandels (Kottbusser Tor und Görlitzer Park) ein Platz an jemanden erinnere, dessen Leben durch Alkohol und Drogen verkürzt wurde.

»Ein paar Jahre später waren viele dieser Studenten selber Professor. Die schrieben dann in den vergangenen Jahren all die Bücher, in denen sie sich und ihre Verdienste um die Modernisierung des Landes loben.«

Der Bandname hat also immerhin noch eine provokante Wirkung. Kannst du dich erinnern, wann und wie ihr auf den Namen gekommen seid und wie ihr eure erste Single gemacht und unter die Leute gebracht habt? Das Ganze hatte doch wohl mit dem Dokumentarfilm »Fünf Finger sind eine Faust« über die Apo zu tun?

Die genaue Chronologie weiß ich nicht mehr. Im Film, der auch im Fernsehen lief, hörte erstmals ein breiteres Publikum die Musik der Scherben. Das wäre noch mal ein Kapitel für sich: die politische und ästhetische Experimentierfreudigkeit des Fernsehens in den Sechzigern bis etwa Mitte der Siebziger. Die Filmmusik brachte dann einiges an Zuschauerpost mit der Frage, wo man denn die Platte kaufen könne; so haben wir eben die Single »Macht kaputt, was euch kaputtmacht« gemacht.

Dazu, wie die Band zu ihrem Namen kam, gibt es mehrere Versionen. Meiner Erinnerung nach entstand Ton Steine Scherben als Wortspiel auf die Gewerkschaft IG Bau-Steine-Erden. Das war der damalige Name der heutigen Gewerkschaft IG Bauen-Agrar-Umwelt. Die Band bestand ja aus den Begleitmusikern des Lehrlingstheaters Rote Steine. Die Lehrlinge waren teilweise auch gewerkschaftlich aktiv und etliche arbeiteten auf dem Bau.

Wie bist du zum Lehrlingstheater Rote Steine gekommen?

Mein persönlicher Part ist eher die Folge von Zufällen. Die Roten Steine waren entstanden als Projekt einer Theatergruppe, die als Märchenbühne begonnen hatte. Künstler, die nun im Zuge der Politisierung am Ende der Sechziger mal »was mit Arbeitern« machen wollten. Das fanden die jungen Arbeiter ganz toll, hatten aber keine Lust, wieder bevormundet zu werden oder nur als erste Stufe auf der Karriereleiter der Künstler zu dienen. Folgerichtig machten sie sich selbständig.

Von den Künstlern blieb nur der jüngste, der Musiker Ralph Möbius – der spätere Rio Reiser. Der wollte nun eine richtige Rockband und suchte sich im Umfeld der Lehrlinge Mitstreiter. Das ging dann per Mundpropaganda. Ich war zwar kein Lehrling, immerhin aber noch nahe genug dran mit einem Großvater väterlicherseits, der in der Kreuzberger Naunynstraße in einer Kellerwohnung Schuhe reparierte, und einer Mutter, die in den Dreißigern aus Schlesien als Dienstmädchen nach Berlin gekommen war. Ich wohnte auch noch in Kreuzberg, so erreichte mich die Nachricht, dass ein Schlagzeuger gesucht wird. Das hatte ich schon zuvor während des Beatbooms Mitte der Sechziger gespielt.

War es eher die ästhetische Radikalisierung der Rockmusik und der Popkultur in jenen Jahre, die dich angetrieben hat, oder die politische Radikalisierung des SDS, die Berlin ja doch ziemlich bewegt hat, um es milde auszudrücken?

Ästhetische oder politische Radikalisierung – das lässt sich gar nicht auseinanderhalten, weder bei mir noch insgesamt. Am Anfang standen zu Beginn der Sechziger junge Arbeiter in einem Land, in dem die Klassenhierarchie besonders streng ist: Großbritannien. Dort war auch der Widerspruch zwischen den ökonomischen Möglichkeiten der Gesellschaft und den Lebensverhältnissen dieser Jugendlichen besonders ausgeprägt. Dazu kam die spezielle Nachkriegssituation mit einer Arbeiterklasse, die an Selbstbewusstsein gewonnen hatte. Sie hatte die Hauptlast des Krieges getragen. Sie hatte die Hauptlast des Wiederaufbaus getragen. Und sie hatte sich qualifiziert an den modernsten Technologien wie Radio und Elektronik. Daraus wurden dann die Leute, die den jungen Bands die Verstärker zusammenlöteten oder die im Radiophonic Workshop der BBC die ersten elektronischen Popsongs aufnahmen. Darunter waren auch viele Frauen, die während des Krieges die Chance hatten, in vorher Männern vorbehaltene Positionen aufzurücken.

Das Interessante ist, dass diese Vertreter dessen, was im Englischen aspiring working class heißt, bei ihrem Aufstieg weder die Herrschaftskultur kopierten noch etwas erfanden, was heute abwertend mit Begriffen wie Unterschichtenfernsehen beschrieben wird. Sie schufen etwas völlig Neues, was mit dem Begriff Popkultur nur sehr unzureichend beschrieben ist. Und für ein Jahrzehnt gelang ihnen, die kulturelle Führerschaft zu übernehmen, so dass die Angehörigen der oberen Klassen diese aus der Arbeiterklasse gekommene Kultur nachahmen sollten.

John Lennon ahnte wohl, dass das nicht ewig so weitergehen würde, als er in seinem Song »Working Class Hero« sang: Wenn du ungebildet bist, verachten sie dich. Bist du smart, dann hassen sie dich. Ende der Siebziger kam dann der Backlash mit Margaret Thatchers brutalem Kampf gegen die Gewerkschaften.

Gut zehn Jahre zuvor aber, Mitte der Sechziger, schwappte dieses Neue herüber nach Westdeutschland – zuerst in das Ruhrgebiet und Hamburg, die Regionen, in denen die Verhältnisse denen in Großbritannien ähnelten. Und es war zu Beginn ein vergnügtes Aufbegehren der proletarisch-kleinbürgerlichen Jugend. Es sollte eine ganze Weile dauern, bis sich die ersten Studenten in den Starclub trauten. Als der bürgerliche Nachwuchs die Rockmusik für sich entdeckte, wurde daraus dann ab Anfang der Siebziger alsbald die romantisch-antimoderne Spielart des Krautrock.

»Der RBB-Moderator machte in einem Feature zu Rio Reisers 70. Geburtstag aus dem Songtitel ›Alles verändert sich, wenn du es veränderst‹ ganz zeitgemäß: ›Alles verändert sich, wenn du dich veränderst‹.«

In deinem Vorwort zur Neuauflage des Scherben-Buchs schreibst du, dass die Scherben »als Band immer irgendwie zu früh oder zu spät dran waren«. Wofür waren sie zu früh, wofür waren sie zu spät?

Als die Scherben antraten, war die kreativste Phase des kulturellen Aufbegehrens des Nachwuchses der Arbeiterklasse schon vorbei, die Platten der Kinks, Small Faces, The Who schon fast wieder Geschichte. Die Idee, man könne das noch einmal auf Deutsch wiederholen, funktionierte nur begrenzt, da sich die gesellschaftlichen Verhältnisse auf das Ende dessen zubewegten, was in Deutschland Wirtschaftswunder hieß – in England swinging sixties. Und die Idee mit den deutschen Texten erwies sich auch nicht gerade als Selbstläufer. Denen fehlte etwas ganz Wichtiges: die otherness, das Anderssein. Sie waren keine Stimme von draußen, die allein schon wegen ihrer Fremdheit eine andere und hoffentlich bessere Welt versprach. Heute lacht man über Walter Ulbrichts Spruch vom ausländischen Yeh-Yeh, das man nicht brauche. Aber das war in der Linken, auch bei Dutschke und im SDS, bis Ende der Sechziger weitgehend Konsens.

Irgendwann gab dann beispielsweise die Jugendorganisation der DKP klein bei und akzeptierte lange Haare und Rockmusik, um die Jugend nicht zu verlieren. Man redete sich diese Musik – vor allem den Blues – schön beziehungsweise links, als Stimme der unterdrückten Völker, Minderheiten et cetera – der Beginn der identiy politics. Adorno hatte das mal in einem Streitgespräch mit dem Jazzpapst der Sechziger, Joachim-Ernst Berendt, auf den Punkt gebracht. Berendt, der Sätze aufgeschrieben hat wie den über »die natürliche Spiritualität des Negers«, bezichtigte Adorno, ohne das Wort zu benutzen, des Rassismus, weil der den Jazz, diesen »Klageschrei eines unterdrückten Volkes«, nicht lieben würde. Adornos Antwort, der zu Recht erbost war über diese kaum verhüllte Anschuldigung, ging ungefähr so: Der Jazzfan, der sich an diesem Klageschrei labt, will auch, dass es so bleibt. Adorno drückt das viel präziser aus, als ich es hier wiedergeben kann. Ich wünschte, ich hätte den Text noch irgendwo im Original.

Also, für das, was du »vergnügtes Aufbegehren« genannt hast, ­waren die Scherben wirklich spät dran. Aber wofür zu früh?

Auch diese Debatten hatten sich dann erledigt. Mit Udo Lindenberg kam die erste deutsche Popkultur nach Schlager – oder auch nur eine Modernisierung des Schlagers. Jedenfalls sahen die Scherben dann alt aus; spätestens aber, als die Neue Deutsche Welle die nationalen Hitparaden emporklomm. Die Scherben kamen zu spät für Rock ’n’ Roll, zu früh für den modernisierten Schlager. Mit ihrer Zusammenarbeit mit Brühwarm waren die Scherben zu früh für den (noch zaghaft) queeren Teil der Neuen Deutschen Welle. Und als Rio Reiser solo versuchte, da Anschluss zu finden, war der Drops auch schon wieder gelutscht.

Du bist 1972 bei den Scherben ausgestiegen. Hattest du ausschließlich musikalische Gründe dafür oder gab es auch politische Gründe, die ja häufig auch persönliche sind bei solchen Projekten, wenn Alltag und Agitation, Wohnen und Arbeiten in eins fallen?

Bin ich ausgestiegen? Nein, die wollten mich nicht mehr, weil ich mich für die Idee, die Band müsse nun auch zusammenziehen, nicht begeistern konnte. Ich hatte da meine erste eigene Wohnung und genoss es, die Tür hinter mir zumachen zu können. Und nach zwei Jahren Scherben wusste ich auch, auf was ich mich da eingelassen hätte. In Abwandlung von George Orwells Spruch aus »Animal Farm«: Alle Irren sind gleich. Manche Irre sind gleicher. Vor allem Rio Reisers Küchenkabinett aus erst Möchtegern-Revoluzzern, später dann Möchtegern-Gurus, konnte einem den Spaß verderben. Rio Reiser brauchte die. In Frank Zappas Film »200 Motels« spielt Ringo Starr Frank Zappa, der mit dem Mikrophon in der Hand die Gespräche seiner Musiker belauscht, um daraus seine Songtexte zu machen. Das hätte auch auf Rio Reiser gepasst.

Dazu kam, dass ich früh durch die Bekanntschaft mit dem Beuys-Schüler Conrad Schnitzler mit gänzlich anderen Konzepten des Musizierens bekannt geworden war. Der vertrat die Idee einer Musik vor allem als soziale Aktion, die sich angenehm unterschied von der Dienstleisterrolle eines Schlagzeugers in einer Rockband. In Zeiten, wo das angeblich so urwüchsig Subversive der Rockmusik nicht weiter hinterfragt wurde, war man damit ein Außenseiter. Von heute ­betrachtet sieht das etwas anders aus.

Als ich vor zehn Jahren das Scherben-Buch herausgab, ging es nicht um eine Bandbiographie. Die gab es schon. Der Anlass war die Sorge vor einer rechten Vereinnahmung der Hinterlassenschaft der Scherben. Mittlerweile muss man sagen, die Vereinnahmung ist gar nicht nötig. Die Rechte hat große Teile der Popmusik erobert. Wer also an eine irgendwie naturhafte emanzipatorische Kraft in der Popmusik glaubt, muss noch einmal nachdenken. Dazu sollte das Buch ein Beitrag sein.

Ton Steine Scherben Wolf
Bild:
Jutta Matthes

Du hast, man hört es durch, ein ziemlich distanziertes Verhältnis zu Achtundsechzig, zumindest zu den Siegern dieser Bewegung, die denn auch deren Geschichte geschrieben haben und noch schreiben, das lang schon arrivierte Alternativmilieu. Aber du sprichst in deinen Texten immer wieder mit spürbarer Sehnsucht über die vergessene Lehrlings- und Jugendzentrumsbewegung der frühen siebziger Jahre. Auf welche Seite von Achtundsechzig gehören für dich die Scherben eher: auf die alternative oder auf die proletarisch-militante?

Eines der am häufigsten reproduzierten Fotos aus den späten Sechzigern ist das von den Studenten, die vor ihren im Talar zu einem offiziellen Anlass erscheinenden Professoren das Transparent tragen: »Unter den Talaren Muff von 1 000 Jahren«. Ein paar Jahre später waren viele dieser Studenten selber Professoren. Die schrieben dann in den vergangenen Jahren all die Bücher, in denen sie sich und ihre Verdienste um die Modernisierung des Landes loben. Diese Verdienste reichen von der Erfindung des Sex bis zur erfolgreichen Entnazifizierung. Da fragt man sich, wo jetzt all die Nazis herkommen. Die echten Nazis und die, die man nur als solche beschimpft, weil man längst vergessen hat, was das eigentlich ist. Für diese Sorte Linke ist ja mittlerweile sogar Israel ein Nazi-Staat. Wobei man sagen muss, dass schon 1968 diese schräge Schuldumkehr Konjunktur hatte. Lobenswerterweise haben sich die Scherben von dieser Art des angeblichen Linksseins weitgehend ferngehalten.

Die andere Seite der Geschichte: Als ich die Beiträge für das Scherben-Buch zusammenstellte, machte ich mich auf die Suche nach den Mitgliedern des Lehrlingstheaters Rote Steine und der Jugendlichen aus dem ersten Jugendzentrum, das es in Kreuzberg gab. Die Suche stellte sich als äußerst schwierig heraus. Die waren nicht aufzufinden oder aber sie lebten nicht mehr. Es kommt mir so vor, dass es deutlich mehr waren, die nicht mehr da waren, als es nach der Statistik hätte sein dürfen. Die Lehrlinge und jungen Arbeiter aus dem Umfeld der Scherben hatten ihren kurzen Sommer der Revolte und verschwanden danach in der Anonymität. Schade. Da wären mal andere Zeitzeugen zu Wort gekommen als die, die es im akademischen Bereich oder in den Medien zu etwas gebracht ­haben und deren Stimmen deshalb überproportional häufig zu hören sind. Am Anfang des Buches schreibt ja Ted Gaier, dass man misstrauisch sein soll bei Zeitzeugen, die einem nicht erzählen, was war, sondern wie sie es von heute aus betrachtet gerne gehabt hätten – hey, das trifft auch auf mich zu.

Worin haben sich die Ansichten und Wünsche der Lehrlinge und Jungarbeiter von denen der Studenten besonders unterschieden?

Die Vorstellungen der Lehrlinge unterschieden sich deutlich von der studentischen Linken. Vietnam interessierte die Lehrlinge nicht so und den Antiamerikanismus des deutschen Bürgertums teilten sie auch nicht. Die USA waren immer noch das Land der Träume, und Rock ’n’ Roll war der dazugehörende Soundtrack. Die Lehrlingsbewegung war geprägt von der Situation in der Ausbildung: ihrer materiellen Lage und der persönlichen Situation in einer autoritär geprägten Gesellschaft, worunter vor allem die Jugendlichen in den kleineren Städten litten, die dann auch folgerichtig zu Schwerpunkten der Jugendzentrumsbewegung wurden. Songs wie »Warum geht es mir so dreckig« haben hier ihren Ursprung. Man kann in der Rückschau sagen, dass die Lehrlingsbewegung und die damit verbundene Jugendzentrumsbewegung einen erheblichen Beitrag zur Demokratisierung und Zivilisierung des Landes als eine Art Grassroots-Entnazifizierung beigetragen haben. Aber Geschichte wird von den Siegern geschrieben. Und das waren nicht die Lehrlinge, sondern die akademischen Linken, die in den Folgejahren Karriere im Hochschul­bereich oder in den Medien machten, Deshalb ist die Lehrlingsbewegung heute weitgehend vergessen.

Vor gut zehn Jahren gab es schon mal Versuche, die Scherben zu vereinnahmen, und das nicht nur von rechts. Medien und rot-grüne Politiker waren erpicht, eine eigenständige und ebenbürtige deutsche Rock- und Popmusik zu erfinden. Befürchtest du so etwas heute noch einmal oder ist es eher so, dass dem kulturellen Selbstbild eines neuen Deutschlands Techno oder auch bisweilen Deutsch-Rap, sofern er nicht gar zu übel textet, genügt; dass es also die alten Rock-Haudegen nicht mehr braucht?

Ist das jetzt ein Thema für den Kultur- oder für den Wirtschaftsteil? Zu der Zeit, als Claudia Roth für eine Deutschquote im Radio eintrat, war der Nachwuchs der Achtundsechziger alt genug geworden, um als musikalische Kleinunternehmer ihr Glück zu versuchen. Und als gute Eltern wollten die in Medien und Politik aufgerückten ehemaligen Achtundsechziger ihrem Nachwuchs ein bisschen unter die Arme greifen. Dazu gehört, dass die angeblichen Gegner des autoritären Staates es gelernt haben, besonders ungeniert und mit moralischer Selbstüberhöhung in die öffentlichen Kassen zu greifen. Gemessen an so viel Unterstützung ist der Erfolg deutscher Popkultur eher bescheiden, verglichen mit den Verkaufszahlen von Beyoncé und wer einem da noch einfällt. Ein Grund dürfte auch sein, dass den aktuellen deutschen Popmusikern der musikalische Ehrgeiz der »aspiring working class« fehlt.

Ich arbeite ja (noch) beim öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Da kennt jeder die Scherben und Slogans wie »Keine Macht für niemand«. Aber was das heißt, führte der RBB in einem Feature zu Rio Reisers 70. Geburtstag vor. Der Moderator machte aus dem Songtitel »Alles verändert sich, wenn du es veränderst« ganz zeitgemäß »Alles verändert sich, wenn du dich veränderst«. Nein, das ist nicht das Gleiche. Die musikalische Hinterlassenschaft der Scherben ist eine Sammlung von Songs und Sprüchen, an der sich viele bedienen. Und was nicht passt, wird passend gemacht. Und die Band selber? Als das musikalische Flaggschiff des Antikapitalismus sich auflöste, bekamen die einen das Anti und die anderen das Kapital …

Interview: Uli Krug