Homeschooling muss man sich leisten können

Arme bleiben analog

Das Homeschooling wird zurzeit gepriesen. Doch in der Coronakrise erweisen sich hier die Defizite im deutschen Bildungswesen. Die Abhängigkeit des Lernerfolgs von der sozialen Herkunft wird beim digitalen Fernunterricht besonders deutlich.

Der Hamburger Schulsenator Ties Rabe (SPD) war dieser Tage voll des Lobes für das Lehrpersonal der Schulen: »Hamburgs Lehrkräfte haben mit großem Engagement und innerhalb kürzester Zeit Materialien und Aufgaben zur Verfügung gestellt. Sie mailen, skypen und chatten.« Nicht alle, so merkte der Senator an, der sich selbst als »oberster Klassensprecher« bezeichnet, hätten in der Vergangenheit mit »Anerkennung über die digitalen Kompetenzen von Pädagogen« gesprochen. Diesen Kritikern, so lobte er die Lehrerinnen und Lehrer, »haben Sie es in den letzten Wochen aber mal richtig gezeigt!« Das sogenannte Homeschooling in den zurückliegenden Wochen wird also – zumindest in Hamburg – als Erfolgsgeschichte präsentiert. Aber auch andernorts ist Lob zu hören. Und vielen Eltern, die zurzeit Material herunterladen, Arbeitsblätter ausdrucken und mit ihren Kindern Aufgaben erledigen, geht zum ersten Mal auf, dass es nicht immer einfach ist, die lieben Kleinen zu unterrichten. Allerdings haben nicht alle Kinder gleichermaßen Zugang zu den Segnungen des digitalen Zeitalters. Der Erfolg des Homeschooling hängt auch von der sozialen Lage der Familien ab.

»Unseren Schulen fehlen neben Smartboards auch ausreichend Seife und Schutzmasken.« Vera S., Sonderpädagogin an einem Regionalen Bildungs- und Beratungszentrum in Hamburg

»Von meinen Schülern hat nur ungefähr die Hälfte einen Drucker zu Hause«, sagt Vango Sholla, der als Vertretungslehrer an der Nelson-Mandela-Schule im Hamburger Stadtteil Wilhelmsburg arbeitet. Die Schule und der Stadtteil insgesamt gelten als »soziale Brennpunkte«. So schrieb die Leitung der Stadtteilschule gemeinsam mit Leitern anderer Schulen im Jahr 2012 einen offenen Brief an den Senat, um in deutlichen Worten auf ihre problematische Situation hinzuweisen. Seither ist viel passiert und die Nelson-Mandela-Schule hat sich gemausert – so urteilen zumindest die lokalen Medien. Doch die Schülerschaft »aus 50 Nationen« (Hamburger Abendblatt) kommt weiterhin überwiegend aus weniger betuchten Familien.
»Der Zugang zum Unterrichtsstoff ist in diesen Zeiten schon sehr ungerecht verteilt. Viele Schüler gerade aus den jüngeren Klassen kann ich nicht digital erreichen. Ihnen habe ich die Materialien per Post geschickt«, sagt der 26jährige Sholla. Der gebürtige Albaner ging selbst viele Jahre in Griechenland zur Schule und kennt den sozialen Hintergrund seiner Schüler sehr genau. »Viele Schüler sind in dieser Zeit auf sich allein gestellt, da die Eltern kaum Deutsch sprechen. Ich selbst habe rund 150 Schüler und kann nicht mit allen die Aufgaben telefonisch besprechen, obwohl viele es dringend bräuchten und sehr dankbar sind«, berichtet der Lehrer weiter.

Die 34jährige Vera S., die ihren vollen Namen lieber nicht öffentlich nennen möchte, macht an einem Regionalen Bildungs- und Beratungszentrum (ReBBZ) in Hamburg ähnliche Erfahrungen. Ihre Schüler hätten Förderbedarf im Bereich Lernen oder zeigten problematisches Verhalten, früher hätte man sie als »Förderschüler« bezeichnet. »Ich erreiche meine Schüler nur analog. Das bedeutet, ich telefoniere viel mit ihnen und schicke Materialpakete mit der Post«, sagt die Sonderpädagogin. Skypen, chatten, mailen? Fehlanzeige, denn kaum ein Schüler habe neben seinem Smartphone weitere digitale Geräte. Die Möglichkeit von Videokonferenzen wirke da sehr fern. Und die Tarife, die die Schüler sich leisten könnten, ließen meist keinen umfangreichen Datenverkehr zu. Einige Schüler wecke sie als Klassenlehrerin telefonisch gegen zwölf Uhr, sagt S. Den Kontakt zu halten, erfordere große Geduld.

Im gutsituierten Stadtteil Eimsbüttel scheint es solche Probleme kaum zu geben. »In den Klassen meiner eigenen Kinder sitzen alle Schüler pünktlich vor dem Videochat und besprechen die Aufgaben mit der gesamten Klasse«, berichtet Vera S. aus ihrem derzeitigen Familienalltag, der sich von ihrem Berufsalltag erheblich unterscheidet. Es würden perfekt geschnittene Videos geteilt, Radioreportagen geübt, eine Lehrerin ihrer Kinder lese jeden Tag etwas vor, nehme sich dabei auf und verschicke das Resultat als Audiodatei.

Wahrscheinlich hat der Hamburger Senator Schulen wie diejenige in Eimsbüttel im Blick, wenn er die Möglichkeiten der Digitalisierung und des Homeschooling lobt. Doch Vera S. und Vango Sholla sind sich einig darin, dass die Krise eines deutlich zeige: dass die Digitalisierung nicht die Lösung oder gar das Heilsversprechen schlechthin sei. Denn auch unabhängig vom ungleich verteilten Zugang zu den entsprechenden Techniken fehlten den Schülern der Austausch und das soziale Miteinander, egal ob in Wilhelmsburg oder Eimsbüttel. Vor einer übereilten Rückkehr zur Normalität warnen jedoch beide Pädagogen, trotz der Ungerechtigkeiten beim digitalen Lernen. Eine überhastete Öffnung der Schulen sei sehr riskant. »Es ist ein Dilemma. Aber unseren Schulen fehlen neben Smartboards auch ausreichend Seife und Schutzmasken«, stellt Vera S. nüchtern fest. Mangel herrscht also nicht nur in technischer, sondern auch in hygienischer Hinsicht.