Die Ökonomisierung des deutschen Gesundheitssystems und ihre Folgen

Betten sind nicht alles

Die Ökonomisierung des Gesundheitssystems sorgte für weniger Personal, schlechte Arbeitsbedingungen und die Vernachlässigung von Menschen mit teuren Krankheiten – und dafür, dass es in Deutschland viele Intensivbetten gibt.

Gesundheitspolitik ist kompliziert, interessiert aber seit einigen Wochen, genau wie die Virologie, sehr viele Leute. Immer wieder wird auf das kaputtgesparte deutsche Gesundheitssystem geschimpft. Das wird gerade mit Blick auf das verbreitete »Flatten the curve«-Schaubild verständlich: Auf diesem verzeichnet eine Kurve die Zahl der Erkrankten über die Zeit hinweg. Wie flach diese Kurve sein muss, um das Gesundheitssystem nicht zu überlasten, zeigt eine waagerecht verlaufende Gerade an, die für die Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems steht. In linken Medien wurde vielfach kritisiert, dass das Niveau der Geraden als naturgegeben hingenommen werde. Gerade in der Diskussion über Triage-Entscheidungen, die nötig werden, wenn nicht mehr alle Patientinnen und Patienten versorgt werden können, wird dies angeführt. Wenn aber das deutsche Gesundheitssystem kaputtgespart ist, warum bewältigt es bisher die Krise so gut? Eine nähere Betrachtung der Privatisierung und Ökonomisierung der Gesundheitsversorgung in den vergangenen Jahrzehnten kann darauf eine Antwort liefern.

Für Menschen, die mit sogenannten Extremkosten assoziierte Erkrankungen haben, ist es häufig schwierig, ein Krankenhaus zu finden, das sie aufnimmt.

Die neoliberale Umstrukturierung des Gesundheitssektors hat wie überall zwei Ziele: zum einen private Profite zu ermöglichen und zu erhöhen, zum anderen Verluste zu vergesellschaften beziehungsweise die Kosten auf den Einzelnen zu verlagern. So hat Georg Cremer, der bis 2017 Generalsekretär des Deutschen Caritasverbands war, zwar recht, wenn er in einem Gastkommentar für die Taz schreibt, der Anteil der Gesundheitsausgaben am deutschen Bruttoinlandsprodukt (BIP) habe sich seit den neunziger Jahren erhöht. 1992 beliefen diese sich auf 9,4 Prozent des BIP, 2017 waren es 11,5 Prozent. Auch Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) wies bei einer Befragung am 22. April im deutschen Bundestag darauf hin, dass seit 15 Jahren nicht mehr am deutschen Gesundheitswesen gespart worden sei. Dass deswegen die »Sozialabbauthese empiriefreie Empörung« sei, wie Cremer schreibt, ist damit allerdings nicht belegt – schließlich kommt es darauf an, ob das ausgegebene Geld den Patientinnen und Patienten, den Pflegekräften oder den Aktionärinnen und Aktionären zugutekommt. Vor der Coronakrise machten große Krankenhauskonzerne wie Asklepios um die 12 Prozent Rendite.

Die neoliberale Umstrukturierung

Die Gesundheitsversorgung galt bis in die achtziger Jahre als grundlegende Daseinsvorsorge, für deren Finanzierung der Staat und die paritätisch von Arbeitgebern und Arbeitnehmern finanzierten gesetzlichen Krankenversicherungen verantwortlich waren. Seitdem erfolgte schrittweise die Ökonomisierung und damit Profitorientierung des Gesundheitssystems. Ein großer Schritt in diese Richtung war beispielsweise das 1984 unter Bundesgesundheitsminister Heiner Geißler (CDU) beschlossene »Gesetz zur Neuordnung der Krankenhausfinanzierung«, das die Privatisierung von Krankenhäusern ermöglichte. Das 1993 in Kraft getretene »Gesundheitsstrukturgesetz«, auf das sich die schwarz-gelbe Koalition und die SPD 1992 geeinigt hatten, deckelte die Gesamtausgaben der Krankenkassen für die Krankenhäuser und ermöglichte damit, dass Krankenhäuser je nach Unternehmensführung Gewinne erwirtschaften können oder auf Verlusten sitzen bleiben. Die ersten Fallpauschalen wurden eingeführt. Die Fallpauschale ist eine festgelegte Vergütung für eine bestimmte Behandlung bei einer bestimmten Diagnose. Der tatsächliche Pflege- und Betreuungsaufwand spielt seither eine untergeordnete Rolle.

Die rot-grüne Regierung unter Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) führte 2004 die Fallpauschalen verbindlich ein. Sie basieren auf Fallgruppen, bei denen zum einen der durchschnittliche Kostenaufwand für eine bestimmte Behandlung eines Patienten mit einer bestimmten Diagnose ermittelt wird, zum anderen unterschiedliche medizinische Diagnosen und Behandlungen zusammengefasst werden, wenn diese gleich viel kosten. ­Medizinisch haben diese in den Fallgruppen oder DRG (Diagnosis Related Groups) zusammengefassten Diagnosen also nicht unbedingt etwas mit­einander zu tun. Zudem werden noch verschiedene Schweregrade unterschieden, die nach Nebendiagnosen, erwarteten Komplikationen und dem Alter der Patienten gewichtet werden. Bei Einführung der DRG gab es 409 Fallgruppen, im vergangenen Jahr bereits 1 318.

Fallpauschalen sind ein kompliziertes Festpreissystem, das nur die laufenden Kosten der stationären Behandlungsfälle, aber keine Vorhaltekosten deckt und keine Investitionen ermöglicht. Unter Vorhaltekosten fallen zum Beispiel die zur Verfügung gestellten Krankenhausbetten, die nicht im Normalbetrieb belegt, sondern für einen Not- oder Katastrophenfall vorgehalten werden. Diese Kapazitäten können nicht oder nur eingeschränkt genutzt werden, solange kein Notfall eintritt, und sind daher unrentabel.

Die laufenden Behandlungskosten werden nicht aus den Bedürfnissen der Patientinnen und Patienten abgeleitet, sonst gäbe es ja kaum Einsparpotential. Die Fallpauschalen erzeugen vielmehr einen hohen betriebswirtschaftlichen Druck, Kapazitäten auszulasten, Kosten zu reduzieren und Verdienstmöglichkeiten auszubauen. Daher bemühen sich die Krankenhäuser, die Behandlungskosten so niedrig wie möglich zu halten. Das gelingt vor allem durch Personalabbau; rund 60 Prozent der Gesamtkosten eines Krankenhauses sind Personalkosten. In Vollzeitstellen umgerechnet ist die Zahl der Pflegekräfte in Krankenhäusern stark ­gesunken: Mittlerweile gibt es 30 000 Stellen weniger als in den neunziger Jahren. Durch das outsourcing von Küche, Reinigung und Sicherheit ist ein großer Niedriglohnsektor in den Krankenhäusern geschaffen worden. Die Arbeitsabläufe sind aufgespalten worden. Durch die Trennung von weniger qualifizierter und höher qualifizierter Arbeit im Pflegebereich können bestimmte Tätigkeiten auf lediglich angelernte und schlechter bezahlte Pflegekräfte verlagert werden.

Geburts- und Kinderstationen werden geschlossen, weil sie zu teuer sind. Demonstration für den Erhalt einer Entbindungsstation in Crivitz, 16. April

Geburts- und Kinderstationen werden geschlossen, weil sie zu teuer sind. Demonstration für den Erhalt einer Entbindungsstation in Crivitz, 16. April

Bild:
dpa/Jens Büttner

 

Überversorgung als Geschäftsmodell

Da die Behandlung nach der Hauptdiagnose bezahlt wird, lohnt es sich nicht, mehrere gesundheitlich Probleme gleichzeitig zu behandeln, auch wenn das medizinisch sinnvoll wäre. Vielmehr werden Patienten entlassen und nach einiger Zeit – nun mit einer neuen Hauptdiagnose – wieder aufgenommen. Für Menschen, die mit sogenannten Extremkosten assoziierte Erkrankungen haben, ist es häufig schwierig, ein Krankenhaus zu finden, das sie aufnimmt. Stationen, die zu viel kosten, werden geschlossen. Das betrifft auch Pädiatriestationen, da sich die Gesundheitsversorgung von Kindern nur schwer standardisieren lässt und deshalb relativ personalintensiv und teuer ist. Diese Stationsschließungen führen für chronisch und schwer kranke Kinder zu erheblicher Unterversorgung und häufig zum Verlust wohnortnaher Versorgung.

Zudem versuchen Krankenhäuser, mehr lukrative Behandlungen anzubieten. Kleine und mittlere Krankenhäuser erweitern ihr Leistungsspektrum um solche Angebote; die Zahl von Kniegelenkoperationen, Kaiserschnitten oder Herzkathetern steigt. Krankenhausmanager versuchen, Alleinstellungsmerkmale für ihre Häuser zu entwickeln, als wären es Marken; Abteilungen wie Pneumologie, Handchirurgie oder Rheumatologie werden vergrößert oder neu gegründet, wenn sie Profit versprechen. Überversorgung gehört zum Geschäftsmodell; Operationen, die weniger der Gesundheit der Patienten als dem Gewinn der Krankenhäuser dienen, müssten allerdings als Körperverletzung bewertet werden. Das wird am Kaiserschnitt deutlich: Der Erlös für die Kliniken liegt etwa um ein Drittel höher als bei einer vaginalen Geburt, unter Umständen ermöglicht zudem die zeitliche Planbarkeit, Personalkosten einzusparen. Kein Wunder, dass der Anteil der Kaiserschnitte an allen Geburten zwischen 2000 und 2017 um über 40 Prozent zugenommen hat. Ein Kaiserschnitt braucht jedoch relativ lange, um zu heilen, gerade in der anstrengenden Wochenbettzeit. Zudem bedeutet die Narbe ein Risiko für eine nachfolgende Schwangerschaft.

Die Konkurrenz um die niedrigsten Kosten führt zudem dazu, dass die Fallpauschalen sinken. Die komplexen Dokumentationsvorschriften sind für das Personal überdies sehr zeitaufwendig, diese Zeit fehlt bei der Patientenbetreuung; bei inkorrekter Dokumentation drohen Rückforderungen der Krankenkassen. Die Zahl der Krankenhäuser nahm seit 1991 stetig ab, von 2 411 auf 1 942 im Jahr 2017. Die Zahl der privaten Häuser stieg im selben Zeitraum von 358 auf 720. Damit waren 2017 mehr als ein Drittel der Krankenhäuser und fast ein Fünftel der Betten privat geführt. Die Zahl der Betten sank seit der Einführung der DRG bis 2017 um 50 102.

Aber das reichte den Gesundheitsökonomen nicht, immer wieder wurden Studien veröffentlicht, die zeigen sollten, dass das deutsche Gesundheitssystem Überversorgung produziere. Häufig erwähnt wurde in den vergangenen Wochen ein Diskussionspapier der Leopoldina von 2016, dem ­zufolge eine gute und effiziente Versorgung mit bundesweit lediglich 330 großen Klinikzentren anstelle der 1 600 allgemeinen Krankenhäuser zu gewährleisten sei. Kleinere Häuser ohne moderne medizinische Ausstattung sollten geschlossen werden. Dies bezeichneten die Wissenschaftler auch als Antwort auf den dramatischen Personalmangel: Wenn es weniger Kliniken gebe, könne das übriggebliebene Personal ja in den verbliebenen Krankenhäusern arbeiten.

Wer in Deutschland wegen einer Covid-19-Erkrankung ins Krankenhaus kommt, wird wohl ein Bett bekommen, nicht trotz, sondern wegen der betriebswirtschaftlichen Ausrichtung der Häuser.

Noch im Juli vergangenen Jahres veröffentlichte die ebenfalls wirtschaftsliberale Bertelsmann-Stiftung eine Studie, die anhand einer Versorgungsregion in Nordrhein-Westfalen zeigen wollte, dass viele Kliniken geschlossen werden müssten, um angebliche Überkapazitäten abzubauen. Die Stiftung behauptete sogar, durch die Schließung kleinerer, nicht vollständig ausgestatteter Häuser ließen sich »viele Komplikationen und Todesfälle« verhindern. Die Begründung dafür, dass dieses Ziel nur auf diese Weise erreichbar wäre und nicht beispielsweise mit besseren Informationen für die Fahrer von Rettungswagen, welche Krankenhäuser in der Umgebung wie ausgestattet sind, bleiben die Autoren der Studie allerdings genauso schuldig wie den Beleg dafür, dass ihre Ergebnisse aus einer Versorgungsregion auf die ganze Bundesrepublik übertragbar sind. Die Forderung, Kapazitäten abzubauen, wurde zudem häufig mit europäischen Vergleichen begründet, ohne näher darzulegen, wie das Gesundheitssystem des jeweiligen Landes finanziert wird oder wie die Altersstruktur der Bevölkerung ist. Womöglich wurde Mangel mit Mangel und Verschwendung mit Verschwendung verglichen.

Derzeit wird besonders häufig die Zahl der intensivmedizinischen Betten verglichen. Hier ist die Frage, wie diese Zahlen überhaupt erhoben werden. In Deutschland gab es dazu jedenfalls bis Anfang vorvergangener Woche nur Schätzungen; erst seit dem 16. April müssen alle Häuser jeden Tag ihre freien und belegten intensivmedizinischen Betten an das Intensivregister der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) melden. Nach aktuellen Angaben der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) bietet Deutschland mit knapp 34 Intensivbetten pro 100 000 Einwohner die höchste Quote in der EU, gefolgt von Österreich, wo knapp 29 Intensivbetten auf 100 000 Einwohner kommen. Recht hoch ist diese Zahl mit knapp 26 auch in den USA, was angesichts der desaströsen Zustände beispielsweise in New York City zeigt, dass eine solche Zahl noch nichts über einen glimpflichen Verlauf der Pandemie sagt.

Invasive Beatmungen sind lukrativ

Die beiden europäischen Länder, die derzeit am stärksten betroffen sind, haben allerdings auch sehr wenige Intensivbetten: Italien 8,6, Spanien knapp 10 pro 100 000 Einwohner. Mitschuld daran hat auch die Austeritätspolitik der EU, die diese Länder Anfang des vergangenen Jahrzehnts zu erheblichen Einsparungen in ihren Sozial- und Gesundheitssystemen zwang. In Spanien wurden unter der Regierung des rechtskonservativen Partido Popular allein im Jahr 2012 die Ausgaben für das Gesundheitssystem um 5,7 Prozent gesenkt. In Italien sank die Zahl der Krankenhäuser wegen der auferlegten Sparzwänge um 15 Prozent. Dafür trägt auch die deutsche Regierung unter Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) ein hohes Maß an Mitverantwortung, da sie in der EU immer auf eine radikale Reduzierung der Staatsschulden gedrängt hatte. In der von der Pandemie besonders getroffenen norditalienischen Region Lombardei sind die Gesundheitsausgaben zwar höher als in Süditalien. Regionalpräsident Attilio Fontana und seine von der rechten Partei Lega gebildete Regierung sorgten allerdings dafür, dass ein großer Teil des Geldes an Privatkliniken floss. Die investierten – hier funktioniert das italienische Anreizsystem anders als das deutsche – eben nicht in Intensivmedizin.

Die offensichtlich vom Gesetzgeber in Deutschland nicht intendierten Fehlanreize sind eine zwangsläufige Folge des DRG-Systems: Zwar soll das Gesundheitssystem insgesamt billiger und sollen Kliniken geschlossen werden, doch hat jeder einzelne Anbieter, der seine Krankenhäuser betriebswirtschaftlich führen muss, Interesse daran, seine Häuser nicht zu schließen. Die Einführung der Fallpauschalen wurde mit einer drohenden Kostenexplosion begründet – diese habe aber tatsächlich nie gedroht, sagte kürzlich der Medizinethiker Giovanni Maio im Deutschlandfunk. Man müsse zugeben, dass das Gesundheitssystem durch die Fallpauschalen teurer und weniger sozial geworden sei. Dass die invasiven Beatmungen auf Intensivstationen zu den für die Krankenhäuser lukrativen ­Angeboten zählen, die durch das System der Fallpauschalen belohnt ­werden, war ein Fehlanreiz, der das deutsche Gesundheitssystem aber in der Covid-19-Pandemie möglicher­weise vor einem frühen Kollaps bewahrt hat.

Die Behandlung der an Covid-19 Erkrankten verlangt jedoch nicht nur nach ausreichend Intensivbetten und Beatmungsmöglichkeiten, sondern auch nach Ärzten und Pflegekräften, am besten solchen, die nicht bereits vom Normalbetrieb völlig erschöpft und ausgebrannt sind. Doch genau das scheint der Fall zu sein. Weil die Arbeitsbedingungen unerträglich geworden sind, arbeiten immer mehr Pflegekräfte nur noch in Teilzeit. Die Lücken sollen mit Leiharbeitskräften und aus Nicht-EU-Staaten angeworbenen Fachkräften gefüllt werden. Eine im Auftrag des Ärzteverbands Marburger Bund erstellte Umfrage unter Berliner und Brandenburger Ärzten zeigte Ende vergangenen Jahres eine starke Überlastung dieser im Krankenhaussystem privilegierten Berufsgruppe: Fast 70 Prozent der Befragten klagten über nahezu ständigen Zeitdruck, sie arbeiteten durchschnittlich knapp zwölf Stunden pro Woche mehr als vertraglich vereinbart. Etwa 59 Prozent der Befragten gaben an, zur Stressbewältigung die Qualität ihrer Arbeit zu reduzieren.

Wer in Deutschland wegen einer Covid-19-Erkrankung ins Krankenhaus kommt, wird wohl ein Bett erhalten, nicht trotz, sondern wegen der betriebswirtschaftlichen Ausrichtung der Häuser. Er oder sie wird aber auch auf ärztliches und pflegerisches Personal treffen, das schon vor der Krise im Notfallmodus war.