Die mexikanischen Drogenkartelle könnten gestärkt aus der Coronakrise hervorgehen

Bohnen von den Bossen

Die organisierte Kriminalität Mexikos hat aufgrund der Coronakrise Einbußen zu verzeichnen. Dennoch könnten die Kartelle gestärkt aus der Pandemie hervorgehen.

Klopapier vom Golfkartell, Reis von den Zetas, Bohnen von »El Chapo« – in Zeiten der Pandemie zeigen sich Mexikos kriminelle Organisationen als großzügige Wohltäter. Die Tochter des inhaftierten Mafiachefs Joaquín Guzmán, genannt »El Chapo«, lässt Lebensmittelkartons verteilen, die das Konterfei ihre Vaters zeigen. Mitglieder des rivalisierenden Kartells Jalisco Nueva Generación (CJNG) warten mit Plastiktüten auf, auf denen der als »El Mencho« bekannte CJNG-Boss Nemesio Cervantes ausrichten lässt, er stehe auf der Seite des Volkes. Das Golfkartell lässt jeden Gabenempfänger wissen, es sei »immer da, um Ihnen zu helfen«. Fotos, die in den sozialen Medien zirkulieren, zeigen schwerbewaffnete Männer, die in Uniformen durch die Straßen verarmter Stadtviertel und Dörfer ziehen und Pakete an glücklich lächelnde Frauen, Männer und Kinder überreichen.

»In der Zukunft werden sie die Früchte dafür ernten, dass sie den Schwächsten die Unterstützung zukommen lassen, die ihnen die Behörden versagen.«
Roberto Saviano, Autor

Dass die organisierte Kriminalität Mexikos in den von ihr kontrollierten Regionen die Bevölkerung unterstützt, hat einen einfachen Grund, sagt der Mafiakenner und Buchautor Roberto Saviano: »Ein Mund, den du heute fütterst, schweigt morgen.« Auch deshalb kann sich selbst Cervantes im Bundesstaat Jalisco frei bewegen. Vergangene Woche verschenkte er sogar in der Öffentlichkeit Lebensmittel. »Jeder weiß, wo sich der Chef des Kartells aufhält, aber niemand würde ihn verraten«, sagt der Sicherheitsexperte Edgardo Buscaglia, der in diesen Tagen in der Region unterwegs ist. Wo staatliche Hilfe nicht ankomme, bleibe der Bevölkerung nichts andres übrig, als das kleinere Übel zu akzeptieren. »Das ist so, obwohl sich die Leute darüber bewusst sind, dass mit El Mencho die Zahl der Drogensüchtigen steigt und ihre Söhne sterben könnten«, sagt Buscaglia. Im Gegensatz zum Staat biete die Mafia Arzneimittel, Krankenbehandlung und vielen ein Auskommen. Saviano sagt, für die Kriminellen zahle sich das aus: »In der Zukunft werden sie die Früchte dafür ernten, dass sie den Schwächsten die Unterstützung zukommen lassen, die ihnen die Behörden versagen.«

Derzeit treten die Narcos genannten Drogenkartelle besonders auffällig als Wohltäter in Erscheinung. Wegen geschlossener Grenzen und Einschränkungen des öffentlichen Lebens laufen die Geschäfte schlecht. Die Narcos müssen sich wirtschaftlich neu orientieren und ihre Einflusszonen verteidigen. Das CJNG wartet vergeblich auf die Zutaten für die synthetische Droge Fentanyl, bislang ein Exportschlager des Kartells. Wegen der Coronakrise könnten die chinesischen Geschäftspartner das Material nicht liefern, berichtet die Stiftung Insight Crime, die sich mit Kriminalität in Lateinamerika beschäftigt. Zugleich ist mit der Einschränkung des legalen Handels auch der Schmuggel von Heroin, Fentanyl und anderen Drogen in die USA schwieriger geworden. »Wir haben eigentlich Vereinbarungen mit Zollpolizisten und unseren Dealern, aber jetzt sind völlig überraschend viele Grenzdurchlässe dicht«, erzählt ein Drogenhändler auf dem Insiderportal »Blog del narco«. Zudem ist der Absatz im Nachbarland gesunken, weil auch Junkies und Kiffer in Houston, San Francisco und New York zu Hause bleiben.

Auch das Geschäft mit gefälschten Luxusuhren, Markenjeans und Turnschuhen bricht ein. Die meisten Raubkopien stammen aus China, und dort standen die Fabriken wochenlang still. Nun warten die Händler etwa auf dem Markt von Tepito, dem größten Umschlagplatz für die Produkte in Mexiko-Stadt, noch immer vergeblich auf ihre Waren. Ihr Lieferant, die Mafiaorganisation »Union Tepito«, hat zudem Probleme, ihre Handelsreisenden, die »Marcopolos«, zu entsenden. Bislang seien diese mit Zigtausenden US-Dollars zum Einkaufen nach China gereist, so Insight Crime. Aber das gehe derzeit wegen der geschlossenen Grenzen nicht. Zudem laufen Entführungen, Erpressungen und Raubüberfälle schlecht – schließlich ist auch in Mexiko das öffentliche Leben weitgehend lahmgelegt. »Wen wollen sie schon entführen, wenn niemand auf der Straße ist«, fragt der Kommentator Alejandro Hope in der mexikanischen Tageszeitung El Universal.

Hope geht davon aus, dass die Mafia zumindest vorübergehend geschwächt ist. »Vielleicht sollte der Staat diesen Ausnahmemoment nutzen, um dort Präsenz zu zeigen, wo er sonst nie ist, und die wichtigsten Banden der organisierten Kriminalität auseinandernehmen«, rät er. Mexikos Präsident Andrés Manuel López Obrador macht jedoch nicht den Eindruck, mit den Narcos auf Konfrontation gehen zu wollen. Auf die Lebensmittelkartons reagierte er gelassen. Das sei nicht hilfreich, sagte er, »schränkt euch besser ein und denkt an eure Familien«. Auf einer Reise gab er der Mutter Guzmáns jüngst freundlich die Hand, aus »humanitären Gründen«, wie er erläuterte. Buscaglia sagt, es sei zwar nicht verboten, der Mutter eines Massenmörders die Hand zu geben. »Aber es ist eine politische Botschaft: Er verleiht dem Kartell soziale Legitimität.«

Buscaglia rechnet trotz der Einbußen nicht mit einer Schwächung der Mafia. »Das organisierte Verbrechen hat seit langem Parallelgesellschaften geschaffen, und die werden jetzt ausgedehnt«, ist er überzeugt. Die Kriminellen seien wesentlich flexibler als die legale Wirtschaft. »Im Gegensatz zu Apple oder Siemens passen sie ihre Geschäfte innerhalb von Wochen den veränderten Bedingungen an«, sagt der Wissenschaftler. Derzeit handelten die Organisationen mit Masken, medizinischem Gerät und Schutzkleidung für Ärzte. Wer seine Arbeit verloren habe, könne von der Mafia Kredite zu günstigen Konditionen bekommen.

Auch während der Finanzkrise von 2008 spielte das organisierte Ver­brechen eine wichtige Rolle. Darauf machte der damalige Leiter des UN-Büros für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC), Antonio Maria Costa, aufmerksam. Die Mafia habe so manche Bank vor der Pleite gerettet. »In vielen Fällen sind Drogengelder das einzige liquide Investmentkapital«, so Costa. Auch das deutet darauf hin, dass Buscaglia mit seiner Einschätzung recht haben dürfte: »Das organisierte Verbrechen wird politisch und sozial gestärkt aus der Krise hervorgehen.«