Die Maske trägt zum Schutz »der Allgemein­heit« bei

Hört auf, mich anzuatmen!

Eine Pflicht zum Maskentragen schützt alle – vor dem Virus und vor Stigmatisierung.

Was glotzen die alle so, denke ich. Ob die Leute jetzt wie sonst auch wegen meines Rollstuhls glotzen, wegen meiner 90 Zentimeter Gesamtkörperlänge oder wegen der Maske – keine Ahnung. Ist mir auch egal. Ohne die Maske gehe ich nicht mehr vor die Tür. Am Anfang passte sie noch schön ins Bild: »Rollstuhl, das ist vielleicht irgendwie ansteckend, da muss man sowieso auf der Hut sein, und jetzt trägt die auch noch Maske.« Mit unbewussten Ängsten, sich mit Behinderung zu kontaminieren, erklärte ich mir die verstörten Blicke der Leute. Wenn ich denn überhaupt mal rausging. Ich sollte mich wegen stark eingeschränkter Lungenkapazität mit diesem Virus besser nicht infizieren. Draußen liefen aber gefühlt überall diese privilegiert-sorglosen Leute herum, die mich mit ihrer Coronaluft anatmeten. Mit dem Wissen über symptomlose Überträgerinnen blieb ich die meiste Zeit schön zu Hause.

Die Maske trägt zum Schutz »der Allgemein­heit« bei, zu der »die Risikogruppen« untrennbar dazugehören.

Jetzt ist die Maske kein Stigma mehr, die Maskenpflicht hat dieses Kleidungsstück binnen kürzester Zeit zur Normalität werden lassen. Ich bin erleichtert und kann mir vorstellen, mich wieder in die Öffentlichkeit zu begeben. Da ich nicht besonders gut höre, wird die Kommunikation mit Maske zwar schwieriger, aber das ist mir immer noch lieber, als Coronatröpfchen abzubekommen. Denn das ist der Zweck des kollektiven Maskentragens: Es geht nicht um Eigenschutz, sondern darum, andere vor Krankheitserregern zu schützen, die man möglicherweise unwissend in sich trägt und verbreitet.

Dass ausgerechnet jemand wie ich eine Virenschleuder sein könnte, ist momentan ziemlich unwahrscheinlich. Mein Leben verbringe ich die meiste Zeit zu Hause, Sozialkontakte gibt es fast ausschließlich über Zoom und Skype – noch. Ich habe eigentlich nicht vor, mich die nächsten zwei Jahre einzubunkern. Wenn es nach Hobbyvirologinnen wie Boris Palmer, Juli Zeh und Julian Nida-Rümelin geht, soll dieses Modell aber am besten weiter ausgebaut werden: »Die Risikogruppen« sollen »mit Spezialmasken geschützt werden«, damit das »soziale, kulturelle und wirtschaftliche Leben der Allgemeinheit« nicht weiter ruiniert werde, forderten sie Ende April im Spiegel: »Gleichbehandlung nach dem Grundgesetz kann auch bedeuten, Ungleiches ungleich zu behandeln, also sachliche Unterschiede zu berücksichtigen.« Es könne nicht angehen, dass, nur weil Einzelne sich »diskriminiert fühlen«, alle anderen ihre Freiheit einschränken müssten.

Abgesehen davon, dass der Appell »Raus aus dem lockdown – so rasch wie möglich« einige juristische und sachliche Fragen aufwirft, sind solche Vorschläge tatsächlich diskriminierend und unvernünftig. Ja, wir wissen noch nicht, ob das kollektive Maskentragen die Verbreitung des Virus effektiv vermindert, aber es gibt diverse Hinweise darauf. In einigen Ländern, in denen Masken schon vor Sars-CoV-2 Normalität waren, konnte die Ausbreitung des Virus schnell eingedämmt werden. Die Studienlage ist in der Tat uneindeutig – aber wie sollte es anders sein bei der ersten Coronapandemie? Konsens unter anerkannten Virologen ist, dass die Sterberate von Covid-19-Patienten deutlich höher ist als bei der Grippe und das Virus auch für Jüngere gefährlich ist. Bis es eindeutige Forschungsergebnisse gibt, sollte Vorsicht vorgehen. Die Maske trägt zum Schutz »der Allgemeinheit« bei, zu der »die Risikogruppen« untrennbar dazugehören.

Ja, es könnte sein, dass die Maske Menschen in falscher Sicherheit wiegt und sie ihren Abstand zueinander verringern lässt – andererseits erinnert die Präsenz von Masken im ÖPNV und in Läden auch daran, dass die Pandemie noch nicht vorbei ist. Und das alltägliche Tragen verringert das Stigma des »Infektiösen«, das sich unweigerlich halten würde, trügen nur einzelne Maske. Und nein, ich bin keine Freundin von law and order. Außerdem bin ich froh, dass es in den meisten Bundesländern Ausnahmen gibt für gehörlose Menschen und solche mit Atemproblemen und anderen Beeinträchtigungen. Dennoch: Ich fürchte, freiwillig würde dieser Schutz nicht funktionieren. Nur wenn die Kooperation aller sichergestellt ist, kann er wirksam sein. Die Verantwortung für die Eindämmung muss solidarisch statt nur von Einzelnen oder konstruierten Gruppen wie »der Risikogruppe« getragen werden.