Das »chinesische Modell« in der Wirtschaft

Neoimperialismus aus dem Asialaden

Die Führung Chinas versucht, ein »chinesisches Modell« durchzusetzen, das auf zwangloser Kooperation beruhe und offen, inklusiv und harmonisch sei. Die Realität sieht anders aus.

Die Demonstrationen seien ein »politisches Virus«, es werde keine Ruhe einkehren, bis diese »giftigen« und »gewalttätigen« schwarz gekleidete Demonstranten »eliminiert« sind. Die jüngsten Äußerungen des Hong Kong and Macao Affairs Office, der höchsten politischen Vertretung der chinesischen Regierung in Hongkong, sind unmissverständlich – und es ist diese Art von politischer Unterdrückung, die Chinas Außenwirkung immer wieder beeinträchtigt.

Das Phänomen ist alt: Den unschönen und komplizierten Verwerfungen der Moderne wird eine scheinbar ganz anders geartete asiatische Antwort entgegengesetzt.

Ob die im großen Maßstab geplante Umerziehung einer ganzen Bevölkerungsgruppe, der Uiguren, die Kolonisierung Tibets, die Erinnerung an das Massaker von 1989 oder die Isolierung Taiwans – Chinas Führung kämpft international vehement um die Deutungsmacht über ihre politische Praxis und scheut mittlerweile auch direkte Interventionen im Westen nicht mehr. Voriges Jahr etwa sprengten staatlich organisierte chinesische Studenten in Australien eine Solidaritätsdemonstration für Hongkong, jüngst entschärfte die EU auf Druck Chinas einen Report über chinesische Desinformationskampagnen zur Covid-19-Pandemie. Zwar ist die globale Ausbreitung von Sars-CoV-2 zumindest teilweise dem anfänglichen chinesischen Schweigen und Missmanagement zu verdanken, doch versucht die Staatsführung, sich nun weltweit als Retterin und oberste Bekämpferin der Pandemie zu inszenieren. Gerade die Coronakrise hat allerdings die internationalen Diskussionen über die wirtschaftliche Abhängigkeit von China und damit einhergehende poli­tische Einflussnahme weiter angefacht.

Das Recht auf freie Meinungsäußerung zu nutzen, kann aus Chinas Sicht überall auf der Welt und jederzeit eine Verletzung seiner Souveränität darstellen. Dahinter steht eine programmatische Absage an Vorstellungen eines ­liberal und menschenrechtlich geprägten Universalismus, wobei die chinesische Führung durchaus ein universalistisches Konkurrenzmodell im Angebot hat, mit dem sie die Menschheit beglücken möchte. In einer Studie des Berliner Think Tanks Mercator Institute for China Studies (Merics) schreibt Didi Kirsten Tatlow über Chinas »kosmologischen Kommunismus«, in dem sich die KP-Führung alter politisch-imperialer Denkfiguren aus 3 000 Jahren chinesischer Geschichte bedient. Ein philosophischer Grundlagentext dieses Weltordnungsmodells nach Geschmack der KP Chinas ist jüngst auf Deutsch bei Suhrkamp erschienen und verdeutlicht, wie zeitgemäß man in China Propaganda mittlerweile aufzuputzen vermag – und wie sehr man damit westliche Erwartungen und Gewohnheiten bedient. Zhao Tingyang, Philosophieprofessor in Peking und intellektuelles Aushängeschild, will in dem Buch »Alles unter dem Himmel« nicht weniger als den Begriff des Politischen neu begründen. Fern von westlichen Vorstellungen, die allesamt, ob bei Carl Schmitt oder im Christentum, von Konkurrenz- und Feinddenken geprägt seien, verweist er auf die Ära der Zhou-Dynastie im ersten vorchristlichen Jahrtausend, in der mit dem Prinzip des Tianxia, das der Buchtitel ins Deutsche überträgt, bereits eine Form globaler Politik entwickelt worden sei, die, ganz anders als der westliche Imperialismus, auf Kooperation und Interessenausgleich beruht habe. Dabei mischt der Text angesagte Begriffe wie »Systemdesign« mit hübschen Exotika wie der Epoche der Frühlings- und Herbstannalen. Im Übrigen ist »die Herrschaft des Himmels« angeblich komplett inklusiv, antirassistisch und harmonisch.

Kulturhistorisch betrachtet ist dieses Phänomen ziemlich alt: Den unschönen und komplizierten Verwerfungen der Moderne wird eine scheinbar ganz anders geartete asiatische Antwort entgegengesetzt, die alle Widersprüche auflöst und mit der Weisheit von Jahrtausenden daherkommt. Die Ursprünge europäischer Geschichte verlieren sich oft im Nebel der Mythen, und selbst wo politische Entwicklungen in Europas Frühzeit etwas fassbarer werden, etwa bei der Entstehung der griechischen Polis, ist die Quellenlage noch immer sehr dünn und der durchschnittliche Leser schnell überfordert. Doch wenn es um China geht, spielt das alles keine Rolle. Was in Zhao Tingyangs Buch Mythologie, Tradition oder moderne Forschung ist, ist für den europäischen Leser ohne Spezialwissen kaum nachvollziehbar. Aber darum geht es auch nicht, es geht um den sound, der solche asiatischen Geschichten so attraktiv für den Westen macht. Und Zhao weiß sein Publikum zu bedienen: Wo es konkret politisch wird, serviert er altbackenen Antiimperialismus.

Xi Jinping, der chinesische Präsident ohne Amtszeitbegrenzung, verkauft das Traumland des Philosophen als politisches Zukunftsmodell einer Welt, die an den Segnungen Chinas unter der weisen Führung der KP teilhaben wird. Er betont, dass das »chinesische Modell« nicht exportiert und niemanden aufgezwungen werden solle – schließlich ist es per Definition antiimperialistisch. Ende 2017 verkündete er auf einem Pekinger Kongress »für den Dialog mit anderen politischen Weltparteien«, es komme eine saubere, wunderschöne Welt auf uns zu, mit Rücksicht auf die Natur und den unersetzbaren Planeten, eine »Gemeinschaft mit einer von der ganzen Menschheit geteilten Zukunft«, offen, inklusiv und, nicht zu vergessen, harmonisch.

Xis Sonntagsrede enthielt wie Zhaos philosophisches Traktat gewisse Leerstellen, Freiheit und Menschenrechte kommen nicht vor oder erscheinen als perfide Erfindungen des westlichen Imperialismus. Der chinesische Präsident pries das Großprojekt der »Belt and Road Initiative«, auch »Neuen Seidenstraße« genannt, als wegweisendes Beispiel für die künftige Weltordnung. Das gigantische Infrastrukturprogramm, das China seit bald zehn Jahren vorantreibt, ist so großzügig wie ­irritierend. Investiert wird nach klaren geostrategischen Gesichtspunkten und ziemlich altbacken imperial, etwa in Pakistan zur Umgehung Indiens und der Seestraße von Malakka. Im Mittelmeerraum hat China den griechischen Hafen von Piräus gekauft. Zuweilen etwas wahllos wird die »Neue Seidenstraße« auf See- und Landwegen praktisch über den gesamten Globus ausgedehnt. China kauft sich in Por­tugal ebenso ein wie in Duisburg, das zum Ziel von Frachtzügen aus Peking wird, und in Afrika baut das Land nun jene gigantischen Infrastrukturprojekte auf Kredit, die früher die Europäer als Entwicklungshilfe hingestellt haben. Nur soll das alles nun antiimperialistisch sein.

Im Grunde existiert die heile Welt »unter dem Himmel« längst; was Zhao Tingyang beschreibt, ist nichts anderes als Chinas Hegemoniebereich. Da ist für Kim Jong-uns Horrorstaat Nordkorea ebenso Platz wie für die Islamische Republik Iran, mit der man hervorragend Ölgeschäfte zum beiderseitigen Nutzen abschließen kann. Der Hass, die Ideologie, die Raketen – das geht nur den Westen etwas an. Etwas schwieriger wird es für die glücklichen chinesischen Vasallenstaaten, wenn man dem imperialen Zentrum ins Gehege kommt. Etwa, wenn man der Meinung widerspricht, dass China praktisch das gesamte südchinesische Meer als eigene Einflusssphäre annektieren dürfe. Dumm auch, wenn man in dieser Welt zufällig Uigure, Tibeter, Taiwanese oder Bewohner von Hongkong ist.