Anfang Mai 1933 inszenierte die ­NSDAP die deutsche Volksgemeinschaft

Zehn Tage im Mai

Die öffentliche Aufmerksamkeit galt in den vergangenen Wochen den ersten Maitagen des Jahres 1945, weil der 75. Jahrestag der Befreiung vom Nationalsozialismus gefeiert wurde – zumindest von manchen. Die ersten Maitage 1933 hingegen hatte die NSDAP genutzt, um ihre Macht zu festigen und die Deutschen als Volksgemeinschaft zu inszenieren.

»Ich habe dem Deutschen Reich den deutschen Arbeiter erkämpft.« Mit diesen Worten beendete Adolf Hitler seine Rede zur Gründung der Deutschen Arbeitsfront (DAF) am 10. Mai 1933. Diesen Kampf führte Hitler schon seit den Anfängen seiner politischen Karriere, den bislang größten Erfolg hatte er zehn Tage zuvor gezeitigt.

Die nationalsozialistische Regierung erhob den 1. Mai wenige Wochen nach ihrem Amtsantritt zum staatlichen Feiertag, dem »Tag der nationalen Arbeit«. In vielen Städten wurden an diesem Tag Feierlichkeiten und Aufmärsche veranstaltet. Zur Teilnahme hatten unzählige Vereine und Verbände aufgerufen, auch die Gewerkschaften. Es war ihr letzter Versuch, im neuen Staat eine Rolle zu spielen. Er scheiterte kläglich.

Die zentralen Feierlichkeiten fanden in der Reichshauptstadt Berlin statt, hier marschierten Hunderttausende organisiert durch die Stadt. Ihr Ziel war das Tempelhofer Feld, auf dem der Lieblingsarchitekt Hitlers, ­Albert Speer, eine Tribüne hatte bauen lassen, die in ­einem Fahnenmeer stehen sollte. Der Aufmarsch war penibel geplant und orches­triert. Erstmals demonstrierten an einem 1. Mai Arbeiter und Arbeiterinnen, Angestellte und Unternehmer gemeinsam. Die Deutschen sollten durch dieses Erlebnis von ihrer Verbundenheit überzeugt werden, der 1. Mai wurde so zur Gründungszeremonie der Volksgemeinschaft.

Die Deutsche Arbeitsfront sollte die arbeitende Gemeinschaft der »schaffenden Deutschen« institutionalisieren.

Der Höhepunkt des Tages war Hitlers Rede auf dem Tempelhofer Feld. Viele Demonstranten und Demons­trantinnen fanden keinen Platz mehr und mussten der Ansprache in der angrenzenden Hasenheide beiwohnen. Millionen weitere Zuhörer und Zuhörerinnen hatten sich auf Plätzen im ganzen Reich versammelt oder saßen zu Hause vor dem Radiogerät, um Hitlers Rede live im Rundfunk zu verfolgen; ein in Deutschland bislang einmaliges Erlebnis medialer Simultanität.

Das Motto von Hitlers Rede lautete: »Ehret die Arbeit und achtet den Arbeiter.« Dazu passte, dass Hitler an diesem Tag die Einführung eines ­verpflichtenden Arbeitsdienstes verkündete, den jeder und jede Jugendliche ab 1935 ein halbes Jahr lang leisten musste. Unentbehrlich sei der Arbeiter, so Hitler in der Rede, der »seine Pflicht erfüllt«. Wer sich der Pflicht aber verweigert, so kann man schlussfolgern, der ist entbehrlich und dem droht Unheil. Am Ende sprach Hitler diese Drohung auch offen aus: »Das deutsche Volk ist zu sich gekommen. Es wird Menschen, die nicht für Deutschland sind, nicht mehr unter sich dulden!« Die folgenden Tage sollten zeigen, was ­damit gemeint war.

Denn schon am 2. Mai besetzten SA, SS und die National­sozialistischen Betriebszellenorganisationen (NSBO) um »Schlag zehn Uhr«, wie der österreichische Historiker Kurt Bauer schreibt, »im gesamten Reich Häuser, Banken, Büros und Redaktionen der Freien Gewerkschaften, beschlagnahmten deren Vermögen und setzten eine Reihe führender Funktionäre in Schutzhaft«. Organisiert hatte Überfall das »Aktionskomitee zum Schutz der deutschen Arbeit«, angeführt von Robert Ley, der wenige Tage danach zum Vorsitzenden der soeben gegründeten Deutschen Arbeitsfront wurde. Ley prägte die Politik des Nationalsozialismus entscheidend, ist heute jedoch nicht so bekannt wie andere führende Vertreter des ­Regimes, weil er sich seiner Verurteilung im Nürnberger Hauptkriegs­verbrecherprozess durch Selbstmord entzog.

Auch an den Hochschulen wurde in diesen Tagen die sogenannte Gleichschaltung forciert und von der Parteibasis und den vielen Sympathisanten unterstützt. Die Deutsche ­Studentenschaft, damals der Zusammenschluss der AStA aller deutschsprachigen Universitäten, war sehr bemüht, auf diejenigen Professoren aufmerksam zu machen, die nach dem im April verabschiedeten »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« aus dem Hochschulbetrieb hätten ausscheiden müssen, nämlich Beamte, die »nicht arischer Abstammung sind« – damit waren vor allem Juden gemeint –, sowie »Beamte, die nach ihrer bisherigen politischen Betätigung nicht die Gewähr dafür bieten, daß sie jederzeit rückhaltlos für den nationalen Staat eintreten«. Am 4. Mai wurde eine ­Verordnung verabschiedet, nach der alle diese Beamten noch innerhalb ­eines Monats zu entlassen seien. Die Studierenden riefen dazu auf, in diesen Tagen im Mai sogenannte Schandpfähle aufzustellen und an diese Bücher solcher nichtarischer oder missliebiger Professoren zu nageln. An den in der Universität Rostock aufgestellten Schandpfahl wurden unter anderem Schriften von Lion Feuchtwanger, Kurt Tucholsky und Magnus Hirschfeld befestigt, einem jüdischen Arzt, der Direktor des Instituts für Sexualwissenschaft war.

Hirschfelds Berliner Institut wurde am 6. Mai »von einer Horde nationalsozialistischer Sportstudenten« überfallen, schreibt sein Biograph Ralf Dose: »Teile der Bibliothek wurden mitsamt der auf einen Stock aufgespießten Büste Hirschfelds am 10. Mai auf dem Opernplatz ins Feuer geworfen.« Hirschfeld befand sich zu dieser Zeit bereits im Exil, er starb fast auf den Tag genau zwei Jahre danach in Nizza. ­Bücherverbrennungen gab es in diesen Tagen viele. Die bekannteste ist die studentisch organisierte »Aktion wider den undeutschen Geist«, die am 10. Mai deutschlandweit stattfand. Nichtstudentische Bücherverbrennungen hatten schon zuvor stattgefunden, zum Beispiel in München und Speyer am 6. Mai sowie in Coburg und Rosenheim am 7. Mai. Die Organisation übernahm in vielen ­Fällen die Hitlerjugend.

Am 6. Mai, dem Tag des Überfalls auf das Institut für Sexualwissenschaft, wurde Konstantin Hierl zum Leiter der Abteilung für Arbeitsdienst und Jugendertüchtigung im Reichsarbeits­ministerium ernannt. Hitlers Ankündigung in seiner Rede am 1. Mai folgten also unmittelbar Taten. Hierl hatte seit Jahren eine staatlich verordnete Arbeitsdienstpflicht gefordert. Diese müsse zur Wehrpflicht und Schulpflicht hinzutreten, denn, so formulierte er schon 1930, »auch mit dem Werkzeug im Frieden hat der Deutsche seinem Volke zu dienen«.

In der Nacht vom 8. auf den 9. Mai gelang dem KPD-Politiker Hans Beimler die Flucht aus dem KZ Dachau bei München. Beimler war im April verhaftet, schwer gefoltert und in das Konzentrationslager eingewiesen worden. Er konnte nach Prag fliehen, bereits im August 1933 erschien sein Bericht »Im Mörderlager Dachau«. Der Kommunist kämpfte bis zu seinem Tod im Dezember 1936 im Spanischen Bürgerkrieg bei den Internationalen Brigaden gegen die Faschisten. Das KZ Dachau war am 22. März 1933 ­gegründet worden, also nicht einmal acht Wochen nachdem die NSDAP in die Regierung ­gekommen war. Bis Mai waren schon Zehntausende Gegner und Gegnerinnen des Nationalsozialismus in vielen Hundert Lagern interniert, die oft nur wenige Wochen bestanden.

Am 10. Mai 1933 wurde die Deutsche Arbeitsfront gegründet. Sie sollte die Gewerkschaften ersetzen, zudem aber auch die arbeitende Gemeinschaft institutionalisieren, die neun Tage vorher auf der Straße war, eine Gemeinschaft aller sogenannten schaffenden Deutschen. Das Ende der Gewerkschaften in den Tagen zwischen Maifeier und Bücherverbrennungen bedeutete nicht nur Inhaftierung und Folter für Tausende, sondern auch die Installation der DAF, deren bekanntester Ableger das »Amt für Kraft durch Freude« wurde. Hitlers Ziel war es, mit dieser Mischung aus Lockangeboten und brutaler Repression den von ihm gewünschten »deutschen ­Arbeiter« zu erschaffen.