Besuch bei einer »Coronademonstration« in München

»Bill Gates = Dr. Mengele«

In München fanden Demonstrationen gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie statt. Es waren die zweitgrößten in Deutschland, nach denen in Stuttgart.

Als hätten keine Kontaktbeschränkungen mehr gegolten, drängten sich auf dem sonnigen Marienplatz mehr als 3 500 Menschen. 80 von ihnen standen in einem mit einem Absperrband markierten Karree. Das entsprach den Auflagen der für Samstag, den 9. Mai, angemeldeten Versammlung in München. Die übrigen Demonstrantinnen und Demonstranten gruppierten sich um das Karree, genau so war das offenbar auch von den Veranstalterinnen und Veranstaltern gewollt. Die Anmelderin schrieb zuvor in ihrer Telegram-Chatgruppe: »Ich habe angemeldet für 80 Personen. Alles korrekt. Aber erwartet werden über 1 000 Leute.«

Seit nunmehr fünf Wochen finden auf dem Marienplatz jeden Samstag Versammlungen statt, die sich gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie richten. Zuerst kamen weniger als 50 Menschen, dann stieg die Zahl der Teilnehmenden rasch. Am 2. Mai waren es erstmals mehr als Tausend, darunter auch vier bayerische Bundestagsabgeordnete der AfD. Bei der großen Demonstration in der Woche darauf war der Frauenanteil auffällig hoch, viele trugen weiße Kleidung und um den Hals oder an ihren Rucksäcken eine Kugel aus Aluminiumfolie – die sogenannte Querdenkerbommel. Vereinzelt standen Männer mit Aluhüten in der Menge. Stadtbekannte Hooligans und Neonazis traten mit freiem Oberkörper und Schildern gegen die Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung in Erscheinung. »Gib Gates keine Chance« war ein beliebtes Motto. Die Symbole des Qanon-Verschwörungsglaubens, die von Anonymous bekannten Guy-Fawkes-Masken und Fotos von Xavier Naidoo sah man ebenfalls häufig.

Auf der Kundgebung trug kaum jemand eine Schutzmaske, und wenn doch, dann mit eindeutigem Aufdruck wie »Merkels Maulkorb«.

Hier versammelte sich die Anhängerschaft einer – in den Worten des Sozialwissenschaftlers David Begrich – »hybriden Ideologie« aus Esoterik, Impfgegnertum und Reichsbürgergedankengut. Dazu gesellten sich aber auch christliche Fundamentalistinnen und Fundamentalisten, sie trugen Kreuze und Schilder mit Aufschriften wie »Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen« oder »Öffnet die Kirchen«. Es gab aber auch eine studentisch-alternativ wirkende Gruppe, die gekommen war, um gegen »Plandemie«, den Microsoft-Mitgründer Bill Gates und das 5G-Mobilfunknetz zu protestieren. »Wir brauchen Volksvertreter, keine Volksverräter«, hieß es auf einem ihrer Schilder. Immer wieder stieß man auf die Parole »Wir sind das Volk«.

Auf der Internetseite der Münchner Sektion der Gruppe »Widerstand 2020« schrieb eine Userin: »Corona hat mich gelehrt, wie ein Nazi-Regime an die Macht kommen konnte, und auch, wie Terrorismus entsteht (aus dem Gefühl der Ohnmacht, Hilflosigkeit und Verzweiflung heraus).« Darin drückt sich eine diffuse Radikalisierung der Szene der Coronaleugner ebenso aus wie eine dort beliebte Form von Geschichtsrelativismus. Dementsprechend trug ein Demonstrant auf dem Marienplatz auch einen gelben, dem nationalsozialistischen »Judenstern« nachempfundenen Aufnäher mit der Aufschrift »Covid-19«. Ein Pärchen zeigt das Schild »Nie wieder Dr. Mengele«, eine Teilnehmerin trug auf dem Kopf eine mit den Worten »Bill Gates = Dr. Mengele« handbeschriftete Unterhose.

Eine Bühne aufzubauen, hatten die Behörden nicht erlaubt. Der Münchner Mediziner Manfred Horst, der als Berater für die Pharmaindustrie arbeitet, hielt im weißen Arztkittel mit dem Grundgesetz in der Brusttasche und einem silbernen Aluknäuel um den Hals eine Rede. Der AfD-Bundestagsabgeordnete Wolfgang Wiehle erklärte sich in seiner Rede mit dem veganen Koch und Verschwörungsideologen Attila Hildmann solidarisch.

Xavier Naidoo nahm zwar nicht teil, verschickt aber noch am Abend ein Video von der Münchner Kundgebung mit dem Kommentar: »Die Polizei könnte nach eigenen Angaben so eine große Veranstaltung nicht auflösen.« Und das sei »gut so«. Vor Ort unternahm die Polizei tatsächlich nicht viel gegen die zahlreichen Verstöße gegen das Infektionsschutzgesetz. Auf Twitter rechtfertigte sie sich: »Aus Verhältnismäßigkeitsgründen entschloss sich der Einsatzleiter gegen eine Räumung der emotionalen, aber an sich friedlichen Versammlung.«

In den folgenden Tagen ernteten der bayerische Innenminister Joachim Herrmann (CSU), die Polizei und das Kreisverwaltungsreferat für ihre Zurückhaltung heftige Kritik. Die Veranstalter wiederum ermutigte ihr Erfolg, sie meldeten für den darauffolgenden Samstag eine Kundgebung mit 10 000 Menschen auf dem Marienplatz an. Daraufhin verlegte die Stadtverwaltung die Versammlung auf die riesige Theresienwiese. Die »Coronarebellen« begannen zu streiten: Sollte man auf der großen Oktoberfestfläche guten Willen zeigen, oder sei die Zeit für spontane Demonstrationen oder gar militantes Vorgehen gekommen?

In einer Chatgruppe schrieb User »Neon«: »Ich kann sicher keine Regierung stürzen, wenn ich vorher frage, ob ich das darf, wo ich das darf und wie viele Leute da mitmachen dürfen.« Ähnlich äußerten sich dort viele. Den Behörden blieb diese Stimmung offenbar nicht verborgen, sie verschärften die Auflagen: Nicht die beantragten 10 000, sondern nur 1 000 Menschen seien auf der Kundgebung erlaubt. In den Chatgruppen stritt man sich nun, ob man auf die Theresienwiese oder in der Innenstadt massenhaft »spazieren« gehen solle.

Am Samstag, dem 16. Mai, begann auf der Münchner Theresienwiese um drei Uhr nachmittags offiziell die Kundgebung unter dem Motto »Freiheit, Grundrechte und Selbstbestimmung«. Bereits eine halbe Stunde zuvor hatte die Polizei mitgeteilt, niemanden mehr zu den bereits anwesenden 1 000 Teilnehmenden vorzulassen. Etwa 2 000 weitere Teilnahmewillige hielt sie in großem Abstand zur Kundgebungsfläche auf. Um den Veranstaltungsort fuhr ein Leichenwagen mit einem von einer Deutschlandfahne bedeckten Sarg. Auf den Türen stand »Würdevoller Abschied – Gates«.

Auf der Kundgebung trug kaum jemand eine Schutzmaske, und wenn doch, dann mit eindeutigem Aufdruck wie »Merkels Maulkorb«. Diesmal gab es auch eine große Bühne und eine Lautsprecheranlage. Die Mitveranstalterin Sina Bodden, eine Immobilienmaklerin, sagte: »Ich bin weder rechts noch links, aber ich bin ein Ossi. Ich habe 1989 die Wende in Berlin miterlebt und ich sage euch, das Gefühl, das ich jetzt habe, ist ähnlich.«

Nach ihr sprach der Allgemeinmediziner Josef Dohrenbusch. Vor wenigen Wochen war er noch der Experte der Fernsehsendung »Corona-Sprechstunde« von ARD-Alpha und BR24. Auf der Demonstration sagte er: »Als Arzt weiß ich, dass der Tod zum Leben dazugehört, und möchte allen ans Herz legen: Lasst uns wieder ins normale Leben zurückkehren.« Zum Abschluss sang man – wie bei Pegida – die deutsche Nationalhymne.

»Wenn ihr nicht reinkommt, macht eine Spontandemo«, hatte es zuvor in den Telegram-Chatgruppen geheißen, in denen sich mehrere Tausend Münchner »Coronarebellen« zusammengeschlossen haben. Die besagte Demonstration vom Marienplatz aus scheiterte kläglich, der in den Chatgruppen diskutierte »Spaziergang« auf dem Mittleren Ring kam nicht zustande.

Nur wenige Stunden nach dem Ende der Veranstaltung meldeten die Organisatorinnen und Organisatoren für 23. Mai eine Versammlung für 100 000 Teilnehmende an. Wegen des angekündigten Unwetters sagten sie diese allerdings kurzfristig ab.