Im Mordfall Walter Lübcke sind noch viel Fragen offen

Revolver, Rohrbomben und Erddepots

Im Juni beginnt in Frankfurt der Prozess wegen des Mordes am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke. Vieles ist noch längst nicht ausreichend ermittelt.

Am 16. Juni soll am Oberlandesgericht in Frankfurt am Main der Prozess wegen des Mordes am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke (CDU) beginnen. Neue Erkenntnisse legen nahe, dass hinter dem mutmaßlichen Täter Stephan E. möglicherweise ein größeres Netzwerk stand. Die These, wonach der E. ein Einzeltäter war und lediglich Hilfe vom Mitangeklagten Markus H. bei der Beschaffung der Tatwaffe hatte, könnte sich als falsch erweisen.

Mehrere Indizien deuten auf weitere Unterstützung hin. So ließ E. beispielsweise nach den tödlichen Schüssen auf Lübcke weder die Tatwaffe noch die leeren Hülsen verschwinden, sondern reinigte die Waffe und fettete sie sorgfältig ein. Nach eigener Aussage versteckte er den Revolver danach während einer Nachtschicht mit einem Arbeitskollegen – eingewickelt in einem blauen Müllsack in einem Erddepot, zusammen mit weiteren Schusswaffen. Die Ermittlungsbeamten bezeichneten das Verhalten als sehr professionell. Es lässt zugleich darauf schließen, dass weitere Taten geplant waren.

Nach Informationen von Zeit Online hatte E. die Polizisten bei seinem ersten Geständnis zu dem Erddepot geführt, damit die Waffen sichergestellt würden. Diese Aussage lässt ebenfalls auf weitere Mitwisser schließen. Neben dem mutmaßlichen Tatrevolver bunkerte der Verdächtige sieben weitere scharfe Waffen und eine erhebliche Menge Munition, unter anderem eine Maschinenpistole vom Typ Uzi mit mehr als 500 Patronen und eine doppelläufige Schrotflinte mit 29 Schuss Munition.

Zu seinen Feinden zählte Stephan E. alle »antideutschen« Kräfte sowie Menschen, »die Rassenschande begehen«.

Der beschuldigte Arbeitskollege von E. bestreitet die Vorwürfe. Gegen den 48jährigen ermittelt die Staatsanwaltschaft Frankfurt wegen »Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Straftat«. Bei einer Hausdurchsuchung fand man auch bei ihm mehrere Waffen einschließlich Munition. Zwar wurden laut Staatsanwaltschaft bisher keine weiteren »Anhaltspunkte für konkrete Anschlagsziele« gefunden, aber allein die Anzahl der aufgefundenen Waffen und das Erddepot, ein für Eingeweihte leicht zugängliches Versteck, sprechen eine deutliche Sprache.

Bereits vor 25 Jahren enttarnte ein Rechtsterrorist Erddepots in Hessen. 1995 führte Peter Naumann das Bundeskriminalamt (BKA) zu 13 mit Waffen und Sprengstoff gefüllten Verstecken in Hessen und Niedersachsen, darunter zehn Erddepots. Naumann, ein Diplomingenieur der Fachrichtung Chemie, wurde zu einer Strafe von 20 Monaten auf Bewährung verurteilt.

Bei E.s Arbeitskollegen gefundene Waffen sollen ebenfalls von E. stammen. Wie der vorbestrafte Mordverdächtige an all diese teils automatischen Waffen kam, muss noch geklärt werden. Mit den Waffen wäre Experten zufolge auch ein Anschlag ähnlich dem im neuseeländischen Christchurch möglich gewesen, wo im März 2019 ein Australier in zwei Moscheen 51 Menschen ermordete.

»Aufgrund der Zuwanderung von Ausländern und einer damit zusammenhängenden zunehmenden Kriminalität« befürchteten die Verdächtigen »bürgerkriegsähnliche Zustände«, hieß es in einem Beschluss des Bundesgerichtshof – aus Sicht des Gerichts eine Schutzbehauptung. Bei E. fand die Polizei zudem Aufzeichnungen, die darauf schließen lassen, dass er sich schon lange mit Anschlagsplänen beschäftigt hatte. Zu seinen Feinden zählte er alle »antideutschen« Kräfte sowie Menschen, »die Rassenschande begehen«.

 

Seine Pläne waren zumindest so weit vorangeschritten, dass er zu mehr als 60 Personen und Objekten Informationen zusammengetragen hatte, darunter Adressen und Autokennzeichen. Seine erste terroristische Tat hatte E. bereits 1993 als 20jähriger begangen. Damals deponierte er eine selbstgebaute Rohrbombe in einem Auto neben einer Flüchtlingsunterkunft. Nur durch Glück kam damals niemand zu Schaden.

Die rechtsextreme Szene in Hessen ist überschaubar und gut vernetzt. Dass der »NPD-Stephan«, wie E. von einem V-Mann des hessischen Verfassungsschutzes bezeichnet wurde, zumindest Kontakte zu dem in den neunziger Jahren zeitweise im nur 40 Kilometer entfernten Frielendorf wohnenden Naumann hatte, konnte zwar noch nicht bewiesen werden. Indizien sprechen aber dafür.

Naumann, ein ehemaliger stellvertretender Vorsitzender des NPD-Kreisverbands Wiesbaden, war Ende der neunziger Jahre häufig Gast auf den Wahlkampfveranstaltungen der Partei. Ähnlich wie Stephan E. agierte Naumann dabei häufig als Saalschützer – zumindest, wenn er nicht selbst als Redner fungierte.

Der von Naumann 1985 gegründete »Völkische Bund« opponierte gegen die legalistische Linie der damaligen NPD-Führung unter dem Vorsitzenden Martin Mußgnug. Unterstützung bekam Naumann vom damaligen Landesvorsitzenden der hessischen NPD, Hans Schmidt. Seine terroristische Aktivitäten – unter anderem sprengte Naumann 1979 gemeinsam mit einem Komplizen zwei Fernsehsendemasten, um die bevorstehende Ausstrahlung der Fernsehserie »Holocaust« zu verhindern – führte er auch in den Neunzigern fort. So fand die Polizei 1995 an zwei hessischen Wohnsitzen Naumanns zwei Rohrbomben, bevor er das BKA kurz darauf zu den beschriebenen Depots führte.

In dieser Zeit wurden Anleitungen zum Bau solcher Bomben zumeist mündlich oder schriftlich weiterverbreitet, das Internet spielte noch keine große Rolle. Woher hatte also Stephan E. das Wissen zum Bau der Rohrbombe, die er 1993 verwendete? Entweder stand er bereits damals in Kontakt zu lokalen rechtsterroristischen Strukturen oder es kursierten schon in den neunziger Jahren solche Anleitungen im rechtsextremen Milieu.

Schon länger bekannt ist, dass E. in den nuller Jahren über Mitglieder von »Blood&Honour« beziehungsweise »Combat 18« zumindest indirekt Kontakt zum rechtsterroristischen »Nationalsozialistischen Untergrund« (NSU) hatte. Bekanntlich geschah ein NSU-Mord in Kassel: 2006 wurde Halit Yozgat in seinem Internetcafé erschossen; am Tatort war auch der damalige VS-Beamte Andreas Temme, der von dem Mord nichts mitbekommen haben will. Experten sind sich sicher, dass der NSU in Kassel Helfer gehabt haben muss.