Ist der »Edgelord« ein konformistischer Rebell?

Spötterdämmerung

Zwei kürzlich erschienene Dokumentarfilme nähern sich dem Typus des »Edgelord« aus je unterschiedlicher Richtung. Beide zeigen aber, dass das transgressive Verhalten, das diese Charaktere an den Tag legen, am Ende lediglich konformistisch ist.

Die Dokumentarfilme »TFW No GF« und »Spit Earth: Who is Jordan Wolfson?«, die beide im April erschienen, könnten kaum unterschiedlichere Milieus zum Gegenstand haben: einerseits das der NEETs (Akronym für »Not in Education, Employment, or Training«, also junge Arbeitslose), andererseits die Kunstwelt. Dafür aber beschäftigen sich beide mit einem ganz bestimmten Sozialtypus – dem »Edgelord«, also den habituellen Provokateur, der sich gern nihilistisch äußert und dessen Habitat vor allem, aber eben nicht nur soziale Medien sind.

Weder die einsamen Internetfiguren in Alex Lee Moyers Film noch der Provokationskünstler Jordan Wolfson verlassen den Horizont dessen, was Fredric Jameson als die kulturelle Logik des Spätkapitalismus bezeichnet hat: Statt Parodie, der ein Gegenentwurf zugrunde liegt, schaffen sie nur ein Pastiche.

Das Akronym »TFW No GF« (That feel when no girlfriend) und das im gleichnamigen Film immer wieder auftauchende Meme-Maskottchen Wojak mit seiner kummervollen Miene (von dem mittlerweile, wie im Film auch erwähnt wird, unzählbare Variationen existieren) bezeichnen eine Generation von vornehmlich männlichen Mittzwanzigern, deren Existenz maßgeblich von Einsamkeit, Entfremdung und nicht zuletzt materieller Not gekennzeichnet ist. Verschiedene Zeitschriften, etwa Variety oder Rolling Stone, bewerben den Film als Doku über das Phänomen der »Incels«; man darf aber vermuten, dass dies auch einer moralpanischen Sensationsgier geschuldet ist. Wer nämlich voyeuristische Einblicke in einen misogynen Killerkult erwartet, wird vermutlich enttäuscht werden. Die Thematik wird zwar ­gestreift, tatsächlich wird aber wenig gegen Frauen und den Feminismus gewütet.

Die Dokumentation gibt sich auf den ersten Blick unpolitisch. Ihr geht es um teilnehmende Beobachtung, und manchen Rezensionen merkt man gar Wut darüber an, dass man mit dem Material größtenteils kommentarlos alleingelassen wird. Werden die Protagonisten, einige junge Männer, die in ihrem Alltag begleitet werden, dann allerdings doch einmal mit als hetzerisch zu verstehenden Tweets konfrontiert, wiegeln sie ab. Das sei eben »Pepe der Frosch« gewesen, die Trickster-Persona, hinter dem sich »Wojak« mit seinen Kränkungen und Gefühlen verstecke. So charakterisiert sich im Film zum Beispiel »Kantbot« (volles Pseudonym: Learned Dr. Kantbot, PhD). »Kant­bot« hat, nicht zuletzt durch ein viral gegangenes Video, in dem er auf einer Demonstration voraussagt, dass Donald Trump das System des deutschen Idealismus vervollständigen werde, längst Kultstatus in einer bestimmten Nische des Internets inne. Für ihn stehen absurde Tweets in einer literarischen Tradition, die mindestens bis zu Schlegels Fragmenten zurückreicht, und als Zuschauer fragt man sich bei solchen Einlassungen, ob es sich hier um eine Art von plausible deniability oder doch um bitteren Ernst handelt. Man sollte jedenfalls die anerkannte Stellung und Intelligenz einiger exponierter Figuren dieser diffusen Subkultur nicht unterschätzen: »Kantbot« schaffte es immerhin, für seinen Pod­cast »Pseudodoxology« sowohl ­linke It-Girls wie Dasha Nekrasova als auch katholische Raudau-Anti­semiten wie E. Michael Jones zu gewinnen.

Die Regisseurin Alex Lee Moyer streut einige mehr oder weniger subtile Hinweise ein, die folgende Deutung nahelegen: In Ermangelung legitimer kultureller Kanäle, durch die sie ihrem Leiden Ausdruck verleihen könnten, bilden diese jungen Männer ihre eigene Subkultur, die in einer avantgardistischen Tradition steht, der Transgression schon immer das Mittel der Wahl war – mit Punk als nächstem, mittlerweile kanonisiertem Verwandten.

Dazu bedient sich Moyer verschiedener Mittel, nicht zuletzt des ingeniös zusammengestellten Soundtracks, dessen Künstlerauswahl allerdings durchaus als politischer Fingerzeig zu verstehen ist. Für den androgynen Lo-fi-Popper Ariel Pink etwa gehört das Image des politisch inkorrekten enfant terrible längst zum Markenkern. Bei John Maus braucht man schon etwas popkulturelles Spezialwissen, um den Wink zu verstehen: Dieser trug, ohne zu wissen, wen er vor sich hatte, vor einigen Jahren eine Musikeinlage zu Sam Hydes postironischer Comedy-Show »Million Dollar Extreme« bei – Hyde wiederum würde die Bezeichnung »rechtsex­tremer Situationist« für sich vermutlich nicht rundheraus ablehnen.Hier untergründig waltende Avantgarde-Energien filmisch zu suggerieren, wird spätestens dann fragwürdig, wenn zum Beispiel der Protagonist »Kyle« in besonders poetischen, an Jim Jarmusch gemahnenden ­Bildern beim depressiven Flanieren durch die postindustrielle Ödnis von El Paso gezeigt wird und die Kamera dann ganz beiläufig und kommentarlos auf seinen Siegelring mit der Konföderiertenflagge zoomt.

André Breton verkündete einst, dass die einfachste surrealistische Tat darin bestehe, mit Revolvern auf die Straße zu gehen und blindlings, solange man kann, in die Menge zu schießen. Die Montage der (allzu?) einfühlsamen Porträts der ­Incels mit Aufnahmen der Columbine-Schützen und des Incel-Attentäters Elliot Rodger wirken bisweilen so, als ob Moyer in diesen Gewalttaten eine Art negative Aufhebung der Kunst in die Lebenspraxis sieht, in der sich ein transgressiver Generation-X-Nihilismus und die Entfremdung der ­Generation Z treffen.

Während die Ästhetisierung von psychischem und sozialem Elend »TFW No GF« also zu einem hochgradig ambivalenten, dabei aber clever durchgestylten, für den Geschmack von digital natives maßgeschneiderten Produkt macht, handelt es sich bei »Who is Jordan Wolfson?« um eine durchaus konventionelle Dokumentation, in der sich O-Töne von Kritikern, Kuratoren, Partnern und Wolfson selbst mit mehr oder weniger interessanten Einblicken in das Leben des »Künstlers als Privatmensch« abwechseln.

Die im Titel enthaltene Frage ist vielleicht unfreiwillig doppeldeutig, selbst manchem interessierten Laien dürfte der 39jährige New Yorker nämlich gar kein Begriff sein. Davon abgesehen wird es vielen Rätsel aufgeben, wie ein Künstler im Jahre 2020 überhaupt noch so viel Empörung provozieren kann, wie Wolfson es tut. Eine Auskunft, die man dazu bekommt, lautet: Wolfson wildert in Gebieten, die er eigentlich nicht ­betreten dürfte. Seine Videoarbeit »Raspberry Poser« etwa thematisierte plakativ das Thema HIV/Aids, das Environment »Female Figure« den männlichen Blick, und »Colored Sculpture« spielt frivol auf die Geschichte der Sklaverei an. Wird Wolfson dann Anmaßung vorgeworfen, reagiert er entweder mit ratlosem Schweigen oder entwaffnend lapidar, etwa indem er zu Protokoll gibt, dass er vielleicht nur zu 25 Prozent homosexuell, aber immerhin ein Mann und außerdem mit der Aids-Krise aufgewachsen sei.

Man versteht recht schnell, worin sowohl das Charisma als auch das Aufreizende dieser Person besteht: Hier habe man es mit einem Baude­laire’schen Dandy zu tun, so soll man glauben. Mehr noch, es liegt der Verdacht nahe, dass Wolfsons durchaus sympathische, flegelhafte Verweigerung, sich auf die Attribute heterosexuell, weiß und männlich festlegen zu lassen, bei denjenigen (zum Antisemitismus anschlussfähige) Ressentiments hervorruft, die – um Mark Fisher zu paraphrasieren – ­ihren Kampf im Namen von in der bürgerlichen Gesellschaft mittlerweile anerkannten Identitäten führen, anstatt darum zu streiten, keine Identität haben zu müssen. Wolfson, der von einem besonders verhaltensauffälligen Kompagnon als »Psycho« bezeichnet wird, kämpft jedenfalls gegen einen als erdrückend wahrgenommenen ästhetischen Konservatismus in der Kunstwelt an, in dem jedes Sujet fein säuberlich einer feststehenden Subjektposition zugeordnet sein soll. Jedoch fehlt seiner Rebellion ein erkennbares Ziel, und die Konzentration auf Wolfson in Form eines Dokumentarfilms belegt eher, dass diese Art von nonkonformistischem Spektakel längst als bloß eine weitere Form von Institutionskritik domestiziert worden ist.

Weder Moyers einsame und absurde Internetfiguren noch Jordan Wolfson verlassen letztlich den ­Horizont dessen, was der Literaturwissenschaftler Fredric Jameson als die kulturelle Logik des Spätkapitalismus bezeichnet hat: Statt Parodie, der ein Gegenentwurf zugrunde liegt, schaffen sie nur ein Pastiche, ein oberflächliches, unverbundenes und unverbindliches Nebeneinander von teils unverstandenen beziehungsweise unbewussten, teils strategischen Zitaten. Dementsprechend sei »Kritik« heutzutage zu einem »Trollfest« herabgesunken, wie es Hito Steyerl in ihrem Buch »Duty Free Art« formulierte. Über den Transgressionscharakter lässt sich dementsprechend trefflich streiten, längst findet nämlich laut Markus Metz und Georg Seeßlen der »kapitalistische Realismus« der politisch korrekten Langweiler und freundlich lächelnden Schreibtischtäter des Neo­liberalismus keinen Gegner, sondern vielmehr eine Ergänzung im »kapitalistischen Surrealisten«, der »sowohl zur extremen Rechten als auch zur Linken anschlussfähig« ist, »gerade noch als ›liberaler Dandy‹ aufgetreten (ist) und gleich darauf dem neofaschistischen Mob den Platz« räumt. Wenn also der langweilige, massentaugliche »Lamestream« vom »Edgelord« lediglich ergänzt wird, sollte man von diesen auch nichts erwarten. Ebenso wenig sollte man ihn aber dämonisieren, weil seine paradoxe Normalität sonst aus dem Blick gerät. Dass diese beiden Dokumentationen gleichzeitig erschienen sind, legt jedenfalls insgeheim Zeugnis ab von der Erschöpfung eines diffusen gegenhegemonialen Stils, der letztlich nicht recht weiß, was er will. Das Alte mag vielleicht sterben, aber das Neue nicht zur Welt kommen.

»TFW No GF« kann bei Amazon Prime ­gestreamt werden. »Spit Earth: Who is ­Jordan Wolfson?« findet sich auf der ­Videoplattform Vimeo.