Rassismus bei der Polizei als eine Folge der Gängelung von Armen

Der Klassencharakter der Polizei

Diversity-Beauftragte werden das Problem des Rassismus in der Polizei nicht lösen, denn der ist der Institution und ihrer Kernaufgabe eingeschrieben: dem Gängeln der Armen.

Die brutale Tötung George Floyds durch einen Polizisten hat weltweit für Entsetzen gesorgt und in den USA zu Protesten geführt, die teils einem Aufstand ähnelten. Zahlreichen Kommentatoren in Deutschland fiel die Einordnung dieser Gewalttat nicht besonders schwer: Die Vereinigten Staaten seien eben ein zutiefst rassistisches Land. Doch es ist gar nicht so einfach, diesen Gemeinplatz auf seinen Wahrheitsgehalt zu prüfen. Eine Umfrage von ABC News etwa hat ergeben, dass drei Viertel der US-Bürger den Mord an George Floyd als Ausdruck eines Rassismusproblems ansehen, und zwar quer durch alle Ethnien und politischen Milieus – sogar 55 Prozent der sich als Republikaner verstehenden Befragten äußerten sich dementsprechend, 30 Prozentpunkte mehr als in einer vergleichbaren Umfrage unter der Präsidentschaft Barack Obamas. Die gängige Vermutung, rassistische Einstellungen hätten sich in der Bevölkerung seit der Wahl Donald Trumps zum Präsident ausgebreitet, belegen solche Zahlen nicht. Eher lässt sich festhalten, dass Rassismus mehr ist als die Summe der Menschen mit rassistischen Einstellungen. »Rassismus«, so die Historikerinnen Karen und Barbara Fields in ihrem Buch »Racecraft«, ist eine »soziale Praxis« und »kein Gefühl oder mentaler ­Zustand, so wie Intoleranz, Vorurteil, Hass oder Böswilligkeit. Verhielte es sich so, wäre man ihn schnell los; die meisten Leute meinen es gut und haben ansonsten sowieso meistens etwas Besseres zu tun.«

Der US-amerikanische Politikwissenschaftler Adolph Reed Jr. sieht die Aufgabe der Polizei in der gegen­wärtigen Phase des US-amerikanischen Kapitalismus darin, das ökonomisch randständige und prekarisierte Proletariat zu überwachen und zu unterdrücken.

Die Aufgabe der Polizei
Rassistische Einstellungen bei Polizisten können also die unbestreit­bare und hartnäckige Persistenz rassistischer Muster von Polizeigewalt möglicherweise nicht erklären, weil solche Einstellungen seit den rela­tiven Erfolgen der Bürgerrechtsbewegung zurückgegangen sind. Der US-amerikanische Politikwissenschaftler Adolph Reed Jr. sieht den Grund ­dieser Persistenz vielmehr in der Aufgabe der Polizei in der gegenwärtigen Phase des US-amerikanischen Kapitalismus, nämlich das ökonomisch randständige und prekari­sierte Proletariat zu überwachen und zu unterdrücken. Und in der Tat ­ereignen sich 95 Prozent der Tötungen durch Polizisten in Gebieten, in denen das durchschnittliche Familieneinkommen weniger als 100 000 US-Dollar pro Jahr beträgt, und zwar unabhängig von der ­ethnischen Zusammensetzung der Viertel.

Welche Gefahr in einem reduktionistischen Blick auf rassistische ­Benachteiligung und Unterdrückung liegt, zeigte Reed unlängst anhand ­einer Analyse der erhöhten Covid-19-Infektionsrate in der schwarzen Bevölkerung den USA. Er kritisierte eine Sichtweise, die von ökonomischen Bedingungen abstrahiert – schlechte Gesundheitsversorgung, ­beengte Wohnverhältnisse, Zugehörigkeit zum »essentiellen Proletariat« – und sogar bei liberalen Antirassisten die Gefahr birgt, die Kategorie race erneut zu verdinglichen und zu essentialisieren: Dann würde man den Grund für die häufigere Ansteckung letztlich im Schwarzsein (und allein dort) suchen, was die identitätspolitischen Fehler beispielsweise der Black Panthers auf einem abstrakteren Niveau wiederholen würde. Eine Kritik solcher Sichtweisen bei der »Black Lives Matter«-Bewegung ist notwendig. Zugleich aber ist deren Forderung nach der Abschaffung der Polizei, so wie sie heute ist, beizubehalten.

Leistungsprinzip und Rassismus
Der US-amerikanische Historiker und Politikwissenschaftler Cedric Johnson kritisierte in verschiedenen Artikeln, dass die Reduktion sozialer Disparitäten auf Fragen rassistischer Diskriminierung nicht nur der historischen Komplexität schwarzer Lebensverhältnisse (insbesondere nach dem New Deal) nicht gerecht werde, sondern auch die Möglich­keiten politischer Organisation unterminiere. Wenn die Frage, wie sich ein politisches Subjekt bilde, mit dem Verweis auf die vermeintlich gemeinsame Erfahrung aller Schwarzen in den USA beantwortet wird, blieben die materiellen Grundlagen der rassistischen Konflikte, wie beispielsweise Arbeits- und Wohnverhältnisse, unbeachtet. Diese sind auch für die Zusammensetzung der Gefängnispopulation in den USA ­relevant: Der Soziologie Nathaniel Lewis konstatierte für das People’s Policy Project, dass zwar Schwarze in den Gefängnissen deutlich über­repräsentiert seien, sich jedoch in erster Linie die soziale Lage als statistisch signifikant erweise, also nicht zuvörderst Schwarze, sondern Arme in den Gefängnissen säßen. In einem Interview mit dem Magazin The ­Intercept merkte Lewis allerdings an, dass wiederholte rassistische Diskriminierung (wie zum Beispiel bei der Vergabe von Schulnoten oder eines Arbeitsplatzes) einen signifikanten Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit haben könnte, später eine Haftstrafe abzubüßen, diese jedoch könne ­seine Art der Studie nicht erfassen. Das Markt- und das Leistungsprinzip des Schul-, Ausbildungs- und Wirtschaftssystems ermögliche eine rassistische Ungleichbehandlung, so dass diese als Bedingungen der Möglichkeit von Rassismus zu kritisieren seien.

Kostenlose Kampagnen
Ähnliche Verschiebungen und Abstraktionen zeigten sich auch bei Kampagnen in Reaktion auf den gewaltsamen Tod Floyds. Die öffentliche Aufmerksamkeit verlagerte sich recht zügig von rassistischer Polizeigewalt hin zum alltäglichen Rassismus generell. So war sich etwa auch der einstige KdF-Wagen-Hersteller VW nicht zu schade, bei der Kampagne #blackouttuesday mitzumachen, einer von der Musikindustrie initiierte Social-Media-Kampagne mit dem Ziel, Aufmerksamkeit für Rassismus gegen schwarze Menschen zu generieren. Dies passierte freilich in einer derart dekontextualisierten und rein performativen Form, dass die Ergebnisse nahezu beliebig sind. VW etwa versprach in seinem Posting, ein Komitee für Diversität und Inklusion einzurichten – was den Konzern nichts kostet und die Wurzel des oben skizzierten Problems nicht berührt. Versucht einer nämlich, Arbeiter zu orga­nisieren, sieht er sich auch unter solchen Bedingungen schnell mit Schmähungen konfrontiert, die ihre klassenmäßig vermittelte rassistische Konnotation nur schwer verbergen können. Das musste beispielsweise Chris Smalls erfahren, den Amazon feuerte, weil er einen Arbeitskampf gegen die laxen Pandemiemaßnahmen des Konzerns initiierte. Dass ausgerechnet Smalls nicht ­besonders schlau und artikuliert sei, behaupteten seine Vorgesetzten da. Amazon nahm selbstverständlich auch an der #blackouttuesday-Kampagne teil.

Die Reibungslosigkeit, mit der die Konzerne, um derentwillen das ­polizeiliche Gewaltregime überhaupt erst betrieben wird, an derlei Kampagnen anknüpfen können, verweist aber weniger auf Heuchelei als auf den Denkfehler, der solchen Kampagnen zugrunde liegt: die Annahme, dass es damit getan sei, individuelle rassistische Einstellungen zu kritisieren und zu korrigieren, während man die politökonomische Realität außer Acht lässt, die Ereignisse wie den Mord an George Floyd immer wieder produziert.

Warum die Polizei rassistisch ist
Es steht außer Frage, dass die Polizei von Rassismus geprägt ist. Das legen auch in Deutschland die Verdächtigungen gegen die Opferfamilien nach den NSU-Morden oder der Widerstand der Polizeigewerkschaften gegen das Berliner Landesantidiskriminierungsgesetz offen. Die Frage ist aber nicht, ob die Polizei eine rassistische Institution ist, sondern warum das Ressentiment besonders in dieser Institution so wirkmächtig ist. Die Annahme eines Systems weißer Privilegien, das der Ursprung und Grund von Ausbeutungs- und Repressionsverhältnissen sei, greift zu kurz und wird im Übrigen auch der heterogenen Lebenswelt (post-)migrantischer Subjekte nicht gerecht, die ebenso gut auch als Kleinunternehmer und Gewerbetreibende eine Lobby organisieren können, um sichtbare Armut aus dem Stadtbild oder etwa vor ihren Läden zu vertreiben, statt zu denen zu gehören, die vertrieben werden.

Der institutionelle Rassismus in Polizei und Sicherheitsbehörden hat seinen Grund in der schwerpunktmäßigen Verfolgung von blue collar crimes, also den Delikten und dem abweichenden Verhalten, die für Arbeiter und Arme spezifisch sind. Bereits in den fünfziger und sechziger Jahren wurde die soziale Selektivität in der kritischen Kriminologie dahingehend diskutiert, dass insbesondere die Kriminalität der sogenannten gefährlichen Klassen, der Surplusbevölkerung, polizeilich und strafrechtlich verfolgt wurde, während gegen white collar crimes die üblichen repressiven Mittel seltener eingesetzt wurden. So werden beispielsweise in den USA Eigentumsdelikte strafrechtlich verfolgt, die Zurückhaltung von Lohn jedoch nicht, obwohl diese einer 2017 veröffentlichten Studie zufolge in den USA einen geschätzten Schaden von 15 Milliarden US-Dollar verursachte und betroffene Arbeiter um durchschnittlich etwa 3 300 US-Dollar pro Jahr brachte.

»Racial profiling« und »junkie jogging« sind zwei Seiten derselben Medaille und Chiffren für die Überwachung bestimmter Ethnien, denen Armut zugeschrieben wird.

Der Besitz und Verkauf von Betäubungsmitteln, der illegale Aufenthalt im Land, Diebstahl oder Betrug sind typische Delikte, die Polizei und Justiz verfolgen. Einen ganz wesentlichen Teil der Ersatzfreiheitsstrafen sitzen daher Leute ab, die ohne Ticket in öffentlichen Verkehrsmitteln gefahren sind und die Strafen hierfür nicht zahlen wollten oder konnten (Jungle World 32/2019). Sogenannte incivilities wie gesprühte Graffiti, das »Herumlungern« von (insbesondere migrantischen) Jugendlichen, Drogennutzern oder Tagelöhnern oder verschmutzte Straßen verstärken das Unsicherheitsgefühl der Bevölkerung und schädigen das Image der »unternehmerischen Stadt«, die auf kaufkräftigen Tourismus und florierenden Einzelhandel angewiesen ist. Die Stadtverwaltungen reagieren, indem sie lokale Gefahrenabwehrverordnungen implementieren, Kommunalpolizei und private Sicherheitsdienste einsetzen und sogenannte »defensive Architektur« installieren, worunter beispielsweise fällt, klassische Musik im öffentlichen Raum abzuspielen.

In der Regel werden die unliebsamen Szenen damit lediglich an andere Orte verdrängt, was bereits vor einigen Jahrzehnten mit dem in seiner Hässlichkeit treffenden Begriff des junkie jogging bezeichnet wurde. Auch vorhersagende Polizeiarbeit, wie sie in verschiedenen deutschen Bundesländern angewandt wird, zielt primär auf die Verfolgung von Wohnungseinbruchsdiebstählen. Software wie etwa Precobs oder Skala kann Voraussagen darüber treffen, in welchen Gegenden in einem bestimmten Zeitraum die Wahrscheinlichkeit eines Wohnungseinbruchs höher ist, um mit Hilfe gezielter Streifengänge zur rechten Zeit am rechten Ort präventiv Straftaten zu verhindern. Zwar spuckt die Software keine Täterprofile aus, doch richtet sich der Blick der Polizeibeamten häufig insbesondere auf Osteuropäer, weil diese mit organisierter Kriminalität assoziiert werden. Racial profiling und junkie jogging sind zwei Seiten derselben Medaille und Chiffren für die Überwachung bestimmter Ethnien, denen Armut zugeschrieben wird. Die selektive Strafverfolgung und die damit sich einstellenden Stereotypisierungen treffen besonders migrantische Milieus und die working poor, die eine für die ­Reproduktion des Kapitals notwendige und billige, aber auch hochpre­käre Reservearmee darstellen, sei es im Niedriglohnsektor oder als Schwarzarbeiter. Hierin liegt der strukturelle und institutionelle Charakter des polizeilichen Rassismus – an dem sich auch mit Diversity-Programmen und Trainings für interkulturelle Kompetenz in der Polizei wenig ändern wird.

No Cops? No Capitalism!
Die »Black Lives Matter«-Proteste in den USA wie auch in Deutschland sind daher ein richtiger Schritt: Die Forderung nach einem defunding der Polizei und ihrer Ersetzung durch sozialarbeiterische und kriseninterventionistische Angebote etwa nimmt die Last der gezielten Repression von der Surplusbevölkerung und dürfte deren Lebensrealität deutlich verbessern. In Minneapolis hat der Stadtrat bereits beschlossen, das örtliche police department aufzu­lösen; er will neue Prioritäten im law enforcement festlegen. Auch in Deutschland werden Forderungen laut, die Polizei abzuschaffen. Dabei müssen die Fordernden jedoch die Gefahr einer Privatisierung von ­Sicherheitspolitik reflektieren: Bereits in den achtziger Jahren kooperierte die Stadt München mit dem zivilen Sicherheitsdienst Carl Wiedmeier GmbH, dessen Mitarbeiter als »Schwarze Sheriffs« bekannt sind. Diese bewachen U-Bahnen und ­öffentliche Gelände und sind wegen Übergriffen auf Obdachlose und Schwarzfahrer berüchtigt. Die Tendenz zum Einsatz privater Sicherheitsdienste für verschiedene Zwecke, ob zur Bewachung öffentlicher Einrichtungen oder gar in kriegerischen Auseinandersetzungen, hält an. ­Daher gilt, was die Black Socialists of America auf Twitter proklamierten: »You ain’t abolishing the police with­out abolishing Capitalism.« Allzu viel Optimismus sollte man nicht hegen, was die Wirksamkeit solcher single issue-Kampagnen angeht. Eine Eigentumsordnung, die den Großteil der Menschen vom produzierten Reichtum ausschließt, wird auf die Polizei nicht verzichten können. Aktivismus in sozialen Medien oder in ähnlicher Form, der ausschließlich privater Natur ist, kann da nur wenig ausrichten. Der Gegenstand verlangt aufgrund seiner letztlich unpersönlichen, strukturellen Natur zu seiner Abschaffung nach ­einem kollektiven Subjekt und nicht nach der »schönen Seele« (Hegel).