Im Hamburger Hafen sitzen Seeleute wegen der Pandemie auf Frachtern fest

Gefangen auf den Blechbüchsen

Weltweit sitzen bis zu 200 000 Seeleute auf Frachtern fest. Das Leben an Bord ist häufig monoton. Viele plagt die Ungewissheit, wann sie zurück nach Hause können.

Am Schuppen 69 im Hamburger Hafen liegt die »Suntis« am Kai. An Bord des kleinen Massengutfrachters, an dessen Kommandobrücke das Wappen eines Fußballvereins in der Sonne schimmert, steht Wilfredo Conde. Der hagere Seemann im orangefarbenen Overall stammt aus Mindanao, der zweitgrößten Insel der Philippinen, und ist seit dem 3. Juli 2019 an Bord des Frachters unter deutscher Flagge. Die »Suntis« fährt auf einer festen Route. »Wir pendeln mit Rapsschrot, Soja oder anderen Massengütern zwischen England, Skandinavien und Deutschland«, sagt die Zweite Kapitänin Ulrike Jacobs. Die Frau trägt eine gelbe Signalweste über legerer Freizeitkleidung und gibt mit dem Ersten Kapitän und Eigner Frank Hagenah den Ton an Deck an.

»Wer nicht mehr kann, körperlich und geistig ausgelaugt ist, den oder die holen wir auch von Bord.« Sven Hemme, Inspektor der Internationalen Transportarbeiter-Förderation

Der ist familiär. Zwei der derzeit vier philippinischen Seeleute, darunter Wilfredo Conde, sind seit sieben Jahren immer wieder an Bord. Man kennt sich, das hilft in der Pandemie ungemein. »Alle drei, vier Tage laufen wir ­einen neuen Hafen an, das sorgt für ein bisschen Abwechslung«, meint Conde, der seine Mund-Nasen-Maske mittlerweile abgenommen hat. Ein hageres Gesicht mit einem schmalen Schnurrbart ist darunter zum Vorschein gekommen. 50 Jahre ist der Seemann alt. Ihn quält die Ungewissheit, wann er ­seine drei Kinder wiedersehen wird. Nachdenklich fährt er sich durch die frisch geschnittenen Haare. Für den Schnitt ist Tina Hagenah verantwortlich, die Frau des Ersten Kapitäns. Sie ist mit Sondergenehmigung am Schuppen 69 aufgekreuzt, gleich gegenüber der Docks fünf und zwölf der Schiffswerft Blohm & Voss. Zahnpasta, Chips, neue Schutzmasken und alles sonst noch Nötige hat sie aus dem nahegelegenen Buxtehude herangeschafft, um die Besatzung zu versorgen.

Für das Familienunternehmen Hagenah mit Heimathafen Itzehoe ist das genauso selbstverständlich wie der freie Internetzugang an Bord des 82 Meter langen Schiffs. Das sind gute Gründe für Wilfredo Conde, immer wieder auf der »Suntis« anzuheuern, zumal der Agent der Reederei Condes Lohn längst an seine Familie überwiesen habe, so der 50jährige Seemann. Das gibt ihm und seinen Kollegen, die an Deck ein paar Sonnenstrahlen genießen, die Gewissheit, dass die Familien versorgt sind, und es dämpft so auch die Ungewissheit, unter der sie leiden.

Wilfredo Conde ist seit sieben Jahren immer wieder an Bord des kleinen Massengutfrachters »Suntis«

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Knut Henkel

Die macht den meisten der rund 1,7 Millionen Seeleute weltweit zu schaffen. Immer öfter muss die Internationale Transportarbeiter-Föderation (ITF) eingreifen. »Täglich kommen neue Fälle hinzu und der Druck, endlich eine Lösung für die rund 200 000 Seeleute zu finden, die weltweit an Bord festsitzen und meist kaserniert sind, ist immens«, sagt Sven Hemme, ITF-Inspektor in Bremerhaven. Er koordiniert die Arbeiter der ITF in den Häfen zwischen Emden und Greifswald und tut, was er kann, um den Seeleuten an Deck zu helfen. Er klärt sie über ihre Rechte auf und verschickt Informationsmaterial über Whatsapp und Facebook, denn Männer wie Wilfredo Conde müssen nicht an Bord ausharren, bis der internationale Flugverkehr wieder aufgenommen wird und die Philippinen alle im Ausland gestrandeten Seeleute wieder einreisen lassen. »Wer nicht mehr kann, körperlich und geistig ausgelaugt ist, den oder die holen wir auch von Bord«, so der 41jährige Gewerkschafter.

Erschöpfung, Ignoranz und Unsicherheit
Ein Beispiel ist Marvin Pavlenko*. Nach langer Verzögerung konnte er Ende Mai im Hafen von Antwerpen in Belgien von Bord gehen und ist mittlerweile wieder in seinem osteuropäischen Herkunftsland eingetroffen. Dafür hat ein ITF-Kollege von Hemme gesorgt, denn Pavlenko konnte nicht mehr. Er hielt das ständige Dröhnen der stampfenden Maschinen nicht mehr aus, war mürbe, depressiv und erschöpft. Drei Monate länger als die eigentlich vereinbarten vier Monate hatte er an Bord des Frachtschiffes ausgeharrt. Aus Rücksicht auf die Reederei und die Crew hatte er seinen Arbeitsvertrag bis Ende Mai verlängert, obwohl er genau wusste, dass ihm die längeren Reisen nicht bekommen. Bei diesen kommt der Schiffskoller, der ihn nach vier, fünf Monaten einholt, wenn er die Monotonie an Bord, das tägliche Einerlei und die immer gleichen Gesichter nicht mehr ertragen kann. Doch diesmal war es noch schlimmer, denn das Schiff aus Osteuropa wurde von der Reederei nach Lateinamerika geschickt. Niemand durfte von Bord, Lebensmittel konnten im Hafen von Gu­ayaquil in Ecuador genauso wenig geladen werden wie Trinkwasser.

»Alles war knapp an Bord, geduscht wurde mit Salzwasser, die Essensrationen wurden kleiner, so dass wir die Angel von Bord hielten und die gefangenen Fische als Notreserve einfroren«, erinnert sich der 36jährige Seemann in seinem schriftlichen Bericht. Den hat er verfasst, um auf die Situation der Seeleute aufmerksam zu machen, denn mit Journalisten zu sprechen oder sein Gesicht in eine Kamera zu halten, traut er sich nicht. »Zu riskant«, sagt seine in Deutschland lebende Schwester. »Er hat Angst, dass die Reederei und die Agenten ihn auf eine Schwarze Liste setzen, so dass es schwer wird, wieder anzuheuern. In Osteuropa gehen die Uhren etwas anders.« Sie hat die Erinnerungen ihres Bruders übersetzt und auch die ITF kontaktiert, als sie merkte, dass dieser nicht mehr weiter wusste. Das war im April, nachdem die Familie vier Wochen nichts von Marvin Pavlenko gehört hatte.

»Vollkommen abgeschnitten waren wir. Wir wussten nur, dass er Ende März den Hafen von Guayaquil verlassen und die Reederei keine Fracht bekommen hatte. Das Schiff war auf hoher See im Pazifik unterwegs, ohne Ladung kreuzte es herum«, so die Schwester. Die Crew war gefangen an Bord. Ihr Bruder vertrieb sich die Zeit mit Videos und Spielen am Rechner, trotzdem machte ihm die Situation zu schaffen. Als seine Schwester Ende April wieder Kontakt zu ihm hatte, machte er einen gestressten, erschöpften und deprimierten Eindruck. Der Schiffskoller hatte die Besatzung erfasst, es hatte bereits Schreiereien an Bord gegeben, denn die Crew wurde hingehalten; die Reederei wollte mit dem Verweis auf die unterbrochenen Flugverbindungen den Besatzungswechsel erneut aufschieben. »Das war für Marvin undenkbar. Da habe ich den Kontakt zur ITF aufgenommen«, erinnert sie sich an Anfang April, als das Schiff den Panamakanal passierte. »Ich hatte Angst, dass er sich etwas antut.«

An Bord von Kreuzfahrtschiffen hat es in der Pandemie bereits Suizide von Besatzungsmitgliedern gegeben, in der Handelsschifffahrt sind bislang keine Fälle bekannt.

An Bord von Kreuzfahrtschiffen hat es in der Pandemie bereits Suizide von Crewmitgliedern gegeben, in der Handelsschifffahrt sind bislang keine Fälle bekannt. Doch die Situation der Seeleute ist nach neun, zwölf und in Einzelfällen auch bis zu 15 Monaten an Bord nicht mehr zumutbar. Darauf weisen Reeder genauso hin wie die Gewerkschaften. Seit Wochen laufen politische Verhandlungen, aber Kompromisse sind bisher nicht zustande gekommen, um die Seeleute von Bord zu holen und die an Land wartende Ablösung auf die Schiffe zu holen.

Die ITF erhöht den Druck
Deshalb erhöht die ITF seit Mitte Juni den Druck: »Handreichung für deine Rechte zum Crewwechsel« steht auf dem Flyer, den die Gewerkschaft über alle Kanäle und in mehreren Sprachen vertreibt. Sven Hemme sagt, darin sei klar herausgestellt, dass Seeleute ihre Verträge nicht über die Grenze von zwölf Monaten verlängern müssen: »Seeleute, die von Bord wollen, werden auch von Bord geholt.« Das Beispiel von Marvin Pavlenko ist nur eines unter vielen aus den vergangenen Wochen. Nachdem Pavlenko das Schiff Ende Mai im Hafen von Antwerpen verlassen hatte, konnte er das monotone Stampfen der Maschinen auch Tage später nicht aus dem Kopf bekommen. »Es hatte sich ins Hirn gebrannt«, sagt seine Schwester. Erst ein paar Tage später zu Hause bei den Eltern sei es abgeklungen.

Wilfredo Conde macht die Monotonie nicht so stark zu schaffen, eher die Ungewissheit. Ob er wirklich nach Hause kommt, wenn sein Vertrag Ende Juni ausläuft, ist un­gewiss. Zwar wurde die Quarantäne auf den Philippinen Anfang Juni gelockert, der internationale Flugverkehr ist jedoch immer noch nicht wieder angelaufen. Das ist aber die Voraussetzung, um den Besatzungswechsel vorzunehmen. Die Philippinen sind neben Indien, der Ukraine, Russland und Bulgarien eine der wichtigsten Seefahrernationen. Das weiß auch Frank Hagenah, der unterdessen mit ölverschmierter Hose aus dem Maschinenraum der »Suntis« geklettert ist. Die Brille hoch in die blonden Haare geschoben, blinzelt er in die mittlerweile strahlende Sonne im Hamburger Hafen. Der drahtige Mann, auf dessen T-Shirt eine alte Seekarte gedruckt ist, hofft, dass Conde und sein Kollege William Pajota die »Suntis« bald verlassen können. »Das ist überfällig, aber nur realistisch, wenn internationale Vereinbarungen zustande kommen«, meint Hagenah. Er wünscht sich mehr Fairness gegenüber den Seeleuten und Sondergenehmigungen für deren Heimreisen.

So etwas wie eine Tankstelle für Seeleute: der Seemannsclub »Duckdalben«

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Knut Henkel

Doch die lassen auf sich warten, obwohl die Situation längst nicht auf allen Schiffen so entspannt ist wie auf der »Suntis«. Das bestätigen auch die Seemannsdiakone vom »Duckdalben«, Hamburgs Seemannsclub im Stadtteil Waltershof direkt am Containerterminal Eurogate. Dort koordinieren Jan Oltmanns und Anke Wiebel die Arbeit. Sie haben den Besuch an Bord der »Suntis« erst ermöglicht. Das war nicht leicht, denn ein Bordbesuch insbesondere von Journalisten ist mitten in der Pandemie bei Reedern wie Terminal-Betreibern alles andere als gern gesehen – wohl auch ein Grund dafür, dass es ein deutsches Schiff mit fairen Arbeitsbedingungen ist, das uns an Bord lässt.

Internetzugang ist für Conde und seine drei philippinischen Kollegen an Bord der »Suntis« zum Beispiel kein Problem. Doch das ist von Reederei zu Reederei anderes. Das bestätigen die Bordseelsorgerinnen und -seelsorger des »Duckdalben« genauso wie der Verband Deutscher Reeder. Gemeinsam mit der Gewerkschaft Verdi hat dieser am 15. Mai W-Lan-Router und Handy-Guthabenkarten im Wert von 28 600 Euro gespendet, um die Kommunikation im Hafen zu erleichtern. Europaweit stellt nur ein Hafen – Antwerpen – einen freien Internetzugang zur Verfügung. In der Pandemie hat sich das für die Seeleute genauso negativ bemerkbar gemacht wie die rigiden Infektionsschutzbestimmungen.

Knapp drei Monate war der »Duckdalben« geschlossen. Niemand geht von Bord, lautete die Order im Hamburger Hafen und in fast allen Häfen rund um den Globus. Seit Anfang Juni ist der »Duckdalben« mit Ausnahmegenehmigung und ausgefeiltem Sicherheitskonzept wieder offen. »Die Crews sind voneinander getrennt, es kommen nur maximal 30 Menschen rein, obwohl wir ein wirklich großer Club sind«, so Anke Wiebel. Sie freut sich, dass Seeleute nun zumindest wieder die Chance haben, ein paar Stunden festen Boden unter den Füßen zu bekommen und sich mit allem Nötigen für die Zeit an Bord zu versorgen. Seemannsclubs sind so etwas wie Tankstellen für Seeleute. Hier erhalten sie alles Mögliche, von Telefonkarten über Zahnbürsten bis zu Schokolade und den in Asien so beliebten Schweinekrusten. Auch darauf mussten viele Seeleute verzichten, denn längst nicht in allen Häfen haben die Seemannsmissionen wie in Hamburg ihre Arbeit aufrechterhalten können. Deckbesuche gab es nur in Einzelfällen, ansonsten blieb es bei Notlieferungen an die Gangway.

Für das vertrauliche Gespräch mit den Männern und Frauen an Bord hat die deutsche Seemannsmission binnen drei Wochen die Chat-Plattform dsm.care zur Verfügung gestellt. Dort können sich Seeleute einloggen und ungestört mit jemandem reden. »Das hilft, den Kontakt an Bord zu halten«, so Anke Wiebel. Das ist überaus wichtig, denn die Diakoninnen und Diakone sind so etwas wie die Seismographen der Schifffahrt. Oft kriegen sie es als Erste mit, wenn etwas an Bord nicht in Ordnung ist, und geben das auch weiter: an den hafenärztlichen Dienst, die Wasserschutzpolizei und die ITF. Das schätzt auch Sven Hemme, der schon so manchen Tipp von den Kollegen in Hamburg erhalten und auch das eine oder andere Schiff daraufhin an die Kette gelegt hat. Das könnte in den nächsten Monaten öfter der Fall sein, denn die Besatzungen sind am Rand der Belastbarkeit, so Seemannsdiakon Jan Oltmanns. Der weiß von Fällen, in denen die Crewmitglieder so schlecht informiert waren, dass sie sich sicher waren, eine Sars-CoV-2-Infektion bedeute den sicheren Tod. »Das sorgt für panische Angst, ist aber vollkommen unbegründet, und ich bin das beste Beispiel, denn ich habe Covid-19 hinter mir«, so der 63jährige Leiter des »Duckdalben«. Deshalb appelliert er an die Reeder und die politisch Verantwortlichen, besser zu informieren und die Regeln zu korrigieren – im Interesse der Seeleute. »An die systemrelevanten Männer und Frauen an Bord der großen und kleinen Frachter hat kaum jemand gedacht, als die rigiden Infektionsschutzbestimmungen weltweit erlassen wurden. So sind sie zu Leidtragenden der Coronakrise geworden«, sagt Oltmanns. Und das, obwohl ohne die Seeleute im globalen Handel kaum etwas geht.

* Name von der Redaktion geändert.