Ein Gespräch mit der Anwältin und Autorin Christina Clemm

»Opfer werden immer noch stigmatisiert«

Alle 29 Stunden versucht ein Mann in Deutschland, seine Frau, Partnerin oder Ex-Partnerin zu töten. Über die Arbeit mit Betroffenen und das Funktionieren der Strafverfolgung schreibt die Anwältin Christina Clemm in „AktenEinsicht. Geschichten von Frauen und Gewalt“.
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Christina Clemm ist Fachanwältin für Strafrecht und Familienrecht in Berlin. Im März ist ihr Buch »AktenEinsicht. Geschichten von Frauen und Gewalt« (Antje Kunstmann Verlag) erschienen, in dem sie Einblicke in ihre Arbeit und das Funktionieren der Strafverfolgung gibt.

 

Sie sind Strafverteidigerin und Nebenklagevertreterin von Opfern sexualisierter und rassistischer Gewalt. Es wurde befürchtet, dass durch die Ausgangsbeschränkungen in der Covid-19-Pandemie die Zahl häuslicher Gewalttaten deutlich steigt. Ist das bereits in Ihrer Kanzlei angekommen?

Wir haben sehr viele Anfragen, aber ich weiß nicht, ob das allein auf Corona zurückzuführen ist. Ich befürchte, es wird noch etwas dauern, bis die Betroffenen aus der Zeit der Ausgangsbeschränkungen zu uns kommen. Der Schritt zu einer Anwältin ist selten der Anfang, meist braucht es zunächst Zeit und Beratung.

Sie schildern in Ihrem Buch sehr unterschiedliche Fälle, von extrem rechter Gewalt über Partnerschaftsgewalt und Kindesmissbrauch bis zu Gewalt durch Polizisten. Nach welchen Kriterien haben Sie die Fälle ausgewählt?

»Vielleicht führen Regelungen gegen Grenzüberschreitungen zu Verunsicherungen, aber was ist dagegen zu sagen, wenn dadurch weniger Menschen Opfer werden?«

Ich wollte die Diversität der Fälle aufzeigen, darstellen, dass geschlechtsspezifische Gewalt alle Frauen betrifft, egal welcher sozialen Herkunft. Ich wollte auch sichtbar machen, dass es schlichtweg falsch ist anzunehmen, Täter seien »die anderen«, die nichts mit der »Mehrheitsgesellschaft« zu tun hätten, so wie es etwa rassistisch konnotiert nach der Kölner Silvesternacht 2015/2016 diskutiert wurde. Geschlechtsspezifische Gewalt ist ein immanenter Bestandteil einer patriarchalen Gesellschaft, es geht bei Gewaltanwendung immer um Machterhalt und die Aufrechterhaltung struktureller Ungleichheiten. Es gibt besonders vulnerable Gruppen, wie transgeschlechtliche Personen, Menschen, bei denen ein Migrationshintergrund unterstellt wird, oder Frauen mit Beeinträchtigungen. Diese kommen allerdings nicht alle explizit vor, das hätte den Rahmen gesprengt. Ich höre oft über mein Buch, dass das ja wohl besonders krasse Geschichten seien, aber das stimmt nicht. Ich schildere alltägliche Beispielfälle, damit Leute endlich verstehen, was passiert, und auch um Betroffenen zu zeigen, dass man aus einer Gewaltsituation wieder rauskommen kann.

Das ist mir auch aufgefallen. Sie schildern keine schrecklichen Elendsgeschichten, sondern Fälle, in denen zwar Schreckliches passiert und die nicht gut ausgehen, die aber zeigen, dass es Möglichkeiten gibt, sich aus solchen Gewaltverhältnissen zu befreien.

Mir ging es darum, zu beschreiben, dass die justitielle Aufarbeitung häufig schwierig ist und Gerichtsverfahren auch meist nicht das leisten können, was Betroffene bräuchten, es aber auch darum geht, dass die Betroffenen ihre eigene Entscheidungsfähigkeit wiedererlangen. Die erlebte Erniedrigung zu überwinden, kann auch im Rahmen eines Verfahrens gelingen oder zumindest beginnen.

Alle 29 Stunden versucht ein Mann in Deutschland, seine Ehefrau, Partnerin oder Ex-Partnerin zu töten, alle 79 Stunden gelingt das auch. Trotzdem wird in Deutschland kaum über Femizide gesprochen. Sie schreiben, Deutschland sei in dieser Frage »äußerst rückschrittlich«. Woran liegt das?

An vielem. Etwa daran, dass die Kleinfamilie immer noch nahezu unantastbar ist, dass der gender pay gap riesig ist, die meiste Sorgearbeit immer noch von Frauen geleistet wird und es zu wenige Kitaplätze gibt. Auch werden Opfer immer noch stigmatisiert. Deshalb gibt es so wenige persönliche Berichte, niemand möchte als Opfer wahrgenommen werden. Denn das passt nicht zu der vorherrschenden Meinung, dass die Gleichberechtigung eigentlich erreicht ist, es passt nicht zum Bild der fortschrittlichen, selbstbewussten Frau. Immer noch wird schnell den Betrof­fenen die Schuld zugewiesen. Dann heißt es: »Warum hat sie sich das gefallen lassen, warum ist sie nicht sofort gegangen?«, statt zu fragen: »Warum macht der das eigentlich immer weiter?« Das lenkt von den Tätern ab.

Für Betroffene, deren Selbstbewusstsein häufig durch Gewalt systematisch zerstört wurde und die meist ohnehin Schuldgefühle haben, ist es sehr belastend, wenn sie dann auch noch hören, sie trügen eine Mitschuld, weil sie sich nicht früher getrennt haben. Wichtig wäre, öffentlich über erfahrene Gewalt sprechen zu können. Was auch fehlt, ist eine große feministische Bewegung gegen geschlechtsspezifische Gewalt und Femizide, wie es sie in vielen südamerikanischen Ländern unter dem Motto »ni una menos« (keine weniger) gibt. Dann gäbe es ein größeres Bewusstsein dafür, dass wir alle Betroffene im Bekanntenkreis haben, aber eben auch Täter.

Was ich in all Ihren Fallgeschichten sehr eindrücklich fand, ist der Versuch von Tätern, eine Täter-Opfer-Umkehr zu betreiben: Eigentlich war die Frau schrecklich und hat ihm zugesetzt, er konnte nicht mehr anders, da ist ihm halt »die Hand ausgerutscht«. Das ist ja ein Topos, der auch bei jeder Sexualstrafrechtsreform auftaucht.

»Wie soll man denn dann noch flirten?« Das war ja die Frage in der letzten Reformdebatte (2016 wurde mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD eine Verschärfung des Sexualstrafrechts beschlossen, Die populistische Reaktion - Was sieht die geplante Verschärfung des Sexualstrafrechts vor?, Anm. d. Red.). Meiner Ansicht nach stellt man die Männer so einfältiger dar, als sie sind. Tatsächlich weiß man sehr genau, wann man die Grenze einer anderen Person missachtet. Vielleicht führen Regelungen gegen Grenzüberschreitungen zu Verunsicherungen, aber was ist dagegen zu sagen, wenn dadurch weniger Menschen Opfer werden? Die meisten von uns haben gelernt, sich an Regeln zu halten. Wir schlagen niemanden, auch nicht, wenn wir genervt oder gestresst sind. Dies soll in sozialen Nahverhältnissen zwischen Mann und Frau anders sein? Es ist ja fast amüsant, als wie emotionsgesteuert, unbeherrscht und geradezu hysterisch Männer in diesen Debatten dargestellt werden.

Sie schreiben, in einem Prozess müsse der »Spagat zwischen der Unschuldsvermutung der Angeklagten und der Opfervermutung der Betroffenen« ausgehalten werden. Was meinen Sie damit?

Das ist natürlich umstritten, die Unschuldsvermutung ist zu Recht ein hohes Gut, die bis zur Rechtskraft des Urteils gilt. Dieses Abstraktionsvermögen, das für den Angeklagten gilt, muss aber auch für die andere Seite gelten: sich vorstellen zu können, dass die Person Opfer aufgrund der angeklagten Straftat geworden ist und daher mit dem erforderlichen Respekt und Feingefühl behandelt werden muss. Das heißt nicht, dass Verteidiger keine kritischen Fragen stellen dürfen, sondern das mögliche Trauma im Umgang mit der Person mitzudenken.

Nach der Aufdeckung der Kindesmissbrauchsfälle in Münster Anfang dieses Monats wurden Strafverschärfungen gefordert. Halten Sie das für notwendig?

Mir ist das zu populistisch. Wir haben einen hohen Strafrahmen, der nicht ausgeschöpft wird. Ich fände Maßnahmen wichtiger, die den Betroffenen wirklich helfen. Die kosten aber Geld: etwa Verstetigung und bessere Ausstattung von Beratungsstellen, viel mehr Präventionsarbeit, echte Entschädigung für die Betroffenen. Wichtig wäre eine bessere Ausstattung von Jugendämtern, eine bessere Ausbildung, Sensibilisierung und Bezahlung der Leute, die dort arbeiten. Diese müssten viel mehr Zeit für die einzelnen Fälle haben, aber auch besser kontrolliert werden, weil es da ja auch Fehlentscheidungen gibt, die katastrophale Folgen haben.

Ein solcher Fall kommt ja auch in Ihrem Buch vor.

Im Familiengericht heißt es oft: »Zu einem Streit gehören immer zwei Personen«, und: »Wir müssen jetzt mal nach vorne sehen«. Wenn das aber heißt, zu ignorieren, dass der eine Partner Gewalt ausgeübt hat, ist das fatal. So kann es passieren, dass der Betroffenen nach einer gelungenen Trennung von dem gewalttätigen Vater die Kinder weggenommen werden, weil der Vater stabiler erscheint als die psychisch stark belastete Betroffene. Dann hat die Gewalt dem Täter letztlich tatsächlich geholfen. Für solche möglichen katastrophalen Folgen müssten Jugendämter und Familiengerichte viel stärker sensibilisiert werden.

Anzeigen oder nicht, das ist bei den von Ihnen geschilderten Fällen selten die Frage, weil die Gewalt schon so aufgefallen ist, dass es ein staat­liches Strafverfolgungsinteresse gibt. Wenn die Betroffenen die Wahl haben, wo sehen Sie die Vorteile und Probleme?

Ich bin da ambivalent. Ich versuche, meinen Mandantinnen die Optionen vorzustellen, die sie besitzen, rate ihnen aber zu nichts. Wie bei Anzeigen wegen Polizeigewalt haben wir auch bei sexualisierter Gewalt oft das Problem von Gegenanzeigen des Beschuldigten. Ich wünschte mir andere Möglichkeiten des Umgangs mit Übergriffen als die des Strafrechts und hoffe, wir bekommen einen gesellschaftlichen Wandel hin, der das ermöglicht. Ich habe aber wenig Zutrauen, dass das in absehbarer Zeit erreichbar ist. In unserem System hängt viel am Strafrecht, etwa auch Schmerzensgeld oder Schadensersatz. Viele Mandantinnen wissen, wie unwahrscheinlich eine Verurteilung ist, und zeigen trotzdem an, weil sie das Gefühl haben, sie könnten so das Schweigen oder die »Übereinkunft« mit dem Täter brechen, oder weil sie andere schützen wollen.

Was wäre denn in der jetzigen politischen Situation sinnvoll? Wenn ich etwa an die Kindesmissbrauchsfälle in Münster denke oder die NSU-Morde. Keine Strafverfahren? Ich habe gerade keine andere durchsetzbare Idee, als auch den Weg des Strafverfahrens zu beschreiten. Zurzeit halte ich es deshalb für unabdingbar, das massive staatliche Versagen bei der Strafverfolgung zu kritisieren und dafür zu sorgen, dass sich etwas bessert. Und gleichzeitig müssen wir Polizeigewalt, das Gefängnissystem und mangelnde Resozialisierung kritisieren.