Die Tücken bei Tiktok

Der Spion, den die Teenager lieben

Vor allem Jugendliche nutzen die chinesische Videoplattform Tiktok. Eltern, Lehrer und Datenschützer warnen dagegen vor der Social-Media-App.
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Lisa und Lena sind zurück! Die Rückkehr der Influencer-Zwillinge auf die Kurzvideoplattform Tiktok hat solches Aufsehen in der Netzwelt ­erregt, dass neben Promiflash und Bravo sogar Der Spiegel darüber ­berichtete. Wer sind Lisa und Lena? Die beiden Zwillinge aus Stuttgart ­waren Superstars auf Musically, der Vorgängerplattform von Tiktok. Mit 13 Jahren haben sie dort erste Videos hochgeladen, in denen sie gemeinsam zu Musikstücken tanzten. Damit kamen sie bei der Community so gut an, dass knapp drei Jahre später 30 Millionen Menschen aus aller Welt ihre Musikvideos anklickten. Zum Vergleich: Madonna hat auf ­Instagram gerade mal halb so viele Fans.

Das Blog Netzpolitik.org veröffentlichte im November 2019 einen Bericht zu den Moderationsregeln der App. Moderatoren können demnach Videos, deren Inhalt sie als problematisch einstufen, nicht nur löschen, sondern auch in verschiedenen Stufen die Zugänglichkeit verändern.

Im Jahr 2017 kaufte das chinesische Medienunternehmen Bytedance Musically auf. Zu dieser Zeit hatte die Plattform zwar über 140 Millionen Nutzer, aber auch erhebliche Imageprobleme. Der Vorwurf lautete, auf der Plattform tummelten sich Pädophile und das Unternehmen tue zu wenig, um die zumeist minderjährigen Nutzer zu schützen. Mit der Umbenennung in Tiktok und neuem Design gelang 2018 der Imagewandel. Tiktok übernahm viele Nutzer von Musically.

Nur Lisa und Lena, zu diesem Zeitpunkt 16 Jahre alt, verabschiedeten sich im Frühjahr 2019 aus der Community und löschten ihren Account, um sich auf ihre Schauspielkarriere zu konzentrieren. Im Mai 2020 ­haben sich die beiden mit einem neuen Tanzvideo in dem Forum zurückgemeldet. »Das ist einfach gut zu ­sehen, dass Tiktok auf so einem ­guten Weg ist«, sagte Lena in einem Interview.

Das sehen längst nicht alle so. Auf den ersten Blick scheint die App ein unglaublicher Erfolg zu sein. Das Konzept ist simpel: In dem Netzwerk können Nutzer kurze Videos ansehen und selbst hochladen. Tiktok verhält sich zu Youtube in etwa wie Twitter zu Facebook – die chinesische Plattform bietet ähnliche Möglichkeiten wie Youtube, beschränkt sich aber auf das kurze Format. Ein Video bei Tiktok darf maximal 60 Sekunden lang sein, die meisten sind deutlich kürzer. Die intuitive Technik erlaubt es auch Neulingen und Unerfahrenen, mit wenigen Klicks präsentable ­Videos zu produzieren. Musik, Schnitttricks, Farbfilter und andere Effekte sind leicht einzufügen, was besonders bei jungen Menschen hervorragend ankommt. Berichten zufolge will Youtube bald mit einem eigenen Kurz­videoformat dem Erfolgsmodell folgen.

Die beiden reichweitenstärksten Genres sind Tanzvideos und Comedy-Formate. Von Grundschülern, die vor der Kamera Witze nacherzählen, bis zu Sketchen, die Computer Generated Imagery (CGI) auf Hollywood-Niveau nutzen, findet sich hier alles. Die meisten Fans aber haben schlanke Teenagerinnen, die in enger Kleidung zu Musik tanzen. Charlie D’Amelio ist 16 Jahre alt und mit 46,6 Millionen Followern die »reigning Queen of Tiktok«. Tiktok selbst hat auf Tiktok nur 43 Millionen Follower. Die US-Amerikanerin war 15 Jahre alt, als sie damit begann, Tanzvideos zu drehen und hochzuladen. 151 Millionen Mal wurde ihr 20sekündiges Video angesehen, auf dem sie zu »Gooba« von 6ix9ine tanzt. »Don’t worry, i don’t get the hype either«, schreibt sie in ihrem Profil..

Auf die Userbase ist man bei Tiktok stolz, gelten die Jugendlichen doch als besonders lukrative Zielgruppe für Werbung. Statistiken zeigen eine besonders große Beliebtheit in der »Generation Z«. So nennt man die Alterskohorte der zwischen 1997 und 2012 geborenen – die Nach­folger der Millennials.

Offiziell darf die App erst ab 12 Jahren genutzt werden. In der Praxis ist diese Regel aber bedeutungslos. Die App herunterladen und Videos ­angucken kann jeder, der ein Smartphone besitzt. Lediglich wenn man selbstgedrehte Videos einspeisen will, wird man bei der Registrierung nach dem Geburtsdatum gefragt. Wer will, kann schummeln. Wer wahrheitsgemäße Angaben macht und wegen seines jungen Alters abgelehnt wird, kann sein Geburtsdatum zwar nicht mehr ohne weiteres kor­rigieren; selbst wenn man die App deinstalliert und neu installiert, ­verweigert Tiktok die erneute Registrierung auf dem Gerät. Wenn man sich allerdings über ein zweites Gerät registriert, kann man danach problemlos die Telefonnummer benutzen, die zuvor abgelehnt wurde.

Grundschullehrer berichten, dass nicht zuletzt während der schul­freien Tage in der Pandemie viele Schülerinnen und Schüler die App für sich entdeckt haben. In der offiziellen User-Statistik tauchen die Tiktoker zwischen sechs und zehn Jahren aber nicht auf, da sie bei der ­Registrierung ein fiktives Geburtsdatum angeben. Für den mangel­haften Umgang mit Daten von Kindern musste Bytedance bereits Strafen zahlen. 2019 verhängte die US-amerikanische Handelskom­mission FTC ein Bußgeld in Höhe von 5,7 Millionen Dollar, weil das ­Unternehmen gegen Gesetze zum Schutz Minderjähriger im Internet verstoßen hatte.

Ob ein Video auf Tiktok Erfolg hat, hängt nicht alleine von der Community ab. Das Blog Netzpolitik.org veröffentlichte im November 2019 ­einen Bericht zu den Moderationsregeln der App. Moderatoren können demnach Videos, deren Inhalt sie als problematisch einstufen, nicht nur löschen, sondern auch in verschiedenen Stufen die Zugänglichkeit verändern. Setzt der Moderator ein Video auf »featured«, wird es häufiger ausgespielt. Stellt er dagegen »not recommended« ein, finden es nur jene Menschen, die gezielt danach suchen. Darüber hinaus kann das Auffinden bestimmter Inhalte so weit erschwert werden, dass sie außer dem User, der sie erstellt hat, niemand sehen kann. Netzpolitik.org zufolge werden LGBTQI-Inhalte in islamischen Ländern nicht gezeigt. Auch die Proteste in Hongkong sollen weitgehend unterschlagen worden sein, was das Unternehmen allerdings dementierte. Mittlerweile bietet Bytedance die App in Hongkong gar nicht mehr an.

Kritisiert wurden auch die Moderationsregeln, mit denen Tiktok seine Nutzer vor Cybermobbing schützen wollte. So versahen Moderatoren ­Videos, die Menschen mit Übergewicht oder Behinderungen zeigten, mit einer Reichweitenbegrenzung. Ab einer bestimmten Zugriffszahl flogen diese Videos aus dem Empfehlungsalgorithmus und waren nur auffindbar, wenn man gezielt nach ihnen suchte. Fitte, schlanke Körper haben bei der Jagd nach Followern auf Tiktok also einen Wettbewerbsvorteil.

»Tiktok ist eine Datensammlung, dürftig getarnt als soziales Netzwerk«, urteilte der Reddit-Nutzer »Bang­orlol« in einem langen Post. Mittels Reverse Engineering hatte er versucht herauszufinden, was die App konkret auf einem Smartphone tut. Das sei gar nicht leicht, weil die App ihre Datenwege sehr gut mit regel­mäßig wechselnden Algorithmen verschlüssele. »Das klingt nach Datenschutz, verhindert aber auch, dass User nachvollziehen können, was mit ihren eigenen Daten passiert.«

Wird Tiktok auf einem Smart­phone ausgeführt, werde der Analyse des Hackers zufolge eine gigantische Datenmenge abgeschöpft. Neben der genauen Information, welche Hardware und Software ein Gerät nutzt, würden auch alle Netzwerk­informationen abgerufen. Zumindest einige Versionen der App gäben alle 30 Sekunden den GPS-Standort des Gerätes durch. Außerdem erstelle die App einen lokalen Proxyserver. Dieser diene dem Kodieren von ­Medieninhalten, sei aber leicht zu missbrauchen, da es keine eigenen Mechanismen zur Authentifikation gebe. Was Datenschützer besonders beunruhigt: Viele dieser Funktionen laufen ferngesteuert ab. Tiktok eröffne Dritten so die Möglichkeit, die Kontrolle über das Gerät zu übernehmen.

»Es wäre Understatement, Tiktok als Werbeplattform zu bezeichnen. Tiktok ist im Kern Malware, optimiert für Kinder«, urteilt der anonyme Hacker. Tiktok sammele nicht nur viel mehr Daten als die Apps von Instagram oder Facebook, es gebe sich außerdem deutlich mehr Mühe, diese Datensammlung vor den Nutzern zu verstecken. Stichhaltige Beweise für seine Analyse konnte »Bangorlol« zwar nicht liefern, Untersuchungen der auf Datensicherheit spezialisierten Unternehmen Zimperium und Penetrum bestätigen jedoch im Wesentlichen die Vorwürfe. Bytedance verteidigte sich: Dem Technologieportal T3N teilte das Unternehmen mit, die Analysen basierten auf veralteten Versionen der App.

Laut einer Analyse der Sicherheitsexperten von Penetrum führt ein Drittel der Datenströme auf chinesische IP-Adressen. Aus Angst vor Spionage hat Indien die App bereits verboten. Daraufhin schrieb Kevin Mayer, der operative Geschäftsführer (COO) von Bytedance, einen Brief an die indische Regierung. »Ich kann bestätigen, dass die chinesische ­Regierung uns niemals nach Daten indischer Tiktok-Nutzer gefragt hat«, schreibt Mayer darin. »Sollten wir in Zukunft solch eine Aufforderung bekommen, würden wir darauf nicht reagieren.« Allerdings verpflichtet das chinesische Recht IT-Firmen zur Zusammenarbeit mit den Sicherheitsbehörden. Es ist die zweite Sperrung von Tiktok auf dem indischen Markt. Im April 2019 gab es bereits eine erste, damals mit dem Vorwurf, Tiktok stifte zu Pornographie an.

Während Bytedance versucht, die indische Regierung ein zweites Mal zu beschwichtigen, droht in den USA schon das nächste Verbot. US-Außenminister Mike Pompeo sagte, man denke ernsthaft darüber nach, chinesische Apps wie Tiktok zu verbieten. Angehörigen der US-Armee ist die Nutzung von Tiktok bereits seit ­Januar 2020 verboten. Dass eine chinesische Firma minutengenau weiß, wo US-Soldaten sich aufhalten, war dem Pentagon dann doch zu heikel. Die Tänze von Lisa, Lena und Charlie könnten zum Risiko für die nationale Sicherheit werden.