Antisemitismus in der Pandemie

Alter Wahn, neues Gewand

Seite 3 – Virus und Vernichtungsphantasie
Hintergrund Von

Ähnlich wie manche den Holocaust leugnen und im nächsten Atemzug behaupten, dieser gehe auf ein Komplott der »Zionisten« mit den Nazis zurück, argumentieren viele Antisemiten in der Pandemie widersprüchlich. Die Juden sollen das Virus erfunden haben, um Nichtjuden zu töten oder um aus dem Impfstoff Kapital zu schlagen. Dann wiederum wird beteuert, das Virus sei harmlos, die behauptete Gefahr sei eine jüdische Erfindung. Zugleich jedoch speist sich aus dem, was eben noch als harmlos deklariert wurde, die antisemitische Vernichtungsphantasie. So kursiert im Internet ein Plakatmotiv, das mit dem Motto »Spread the flu to every Jew« (Verteile die Krankheit an alle Juden) versehen ist und zum »Holocough« (nach »cough«, engl. für Husten) an den Juden aufruft.

Derlei sich widersprechende Argumentationsmuster finden anscheinend mühelos in ein und demselben Welterklärungsmodell zusammen. Das ist jedoch kein Ausdruck individueller Verrücktheit derer, die so etwas glauben, sondern geht unter anderem auf affektgesteuerte, unreflektierte Wahrnehmungsmuster zurück – auf die von dem Philosophen und Soziologen Theodor W. Adorno im Zuge seiner Antisemitismusforschung beschriebene »pathische Projektion«. Diese wird im Internet oder gar in einer politischen Bewegung auf bedrohliche Weise kollektiv verstärkt. Lamberty warnt immer wieder davor, sich auf die psychische Verfasstheit einzelner Personen wie Hildmann oder etwa des Attentäters von Halle zu fokussieren. Nicht nur seien solche Ferndiagnosen unethisch, zudem würden die Betreffenden dadurch entpolitisiert: »Für die Gesellschaft ist es gar nicht so relevant, wie stabil eine Person psychisch ist, sondern welche ideologischen Inhalte von ihr verbreitet werden.«

Das erweist sich als umso plausibler, wenn man sich jene ins Gedächtnis ruft, gegen die sich die antisemitisch motivierten Hasstiraden richten. Dazu zählt auch Lamberty selbst. Attila Hildmann forderte seine Anhänger jüngst auf: »Könnt ihr ja mal schreiben.« Für die Expertin sind Todesdrohungen nichts Neues, doch seit sie durch zahlreiche Interviews medial präsenter ist, hat deren Zahl zugenommen. »Als Frau bekommt man anderen Hass und vermutlich auch mehr davon«, sagt sie. So erhält sie sexualisierte Drohungen und Herabsetzungen; als vermeintliche Jüdin und als Frau wird ihr die Kompetenz abgesprochen, sich überhaupt zu äußern.

Auch Jüdinnen und Juden, die nicht persönlich angegriffen werden wie der Münchner Fußballtrainer Max Brym, sind unmittelbar von dem Antisemitismus betroffen, der sich in der Pandemie artikuliert. Für viele von ihnen ist etwa der gelbe Stern nicht allein Teil der deutschen, sondern vor allem der leidvollen Familiengeschichte. So tritt nun zu der ohnehin großen psychischen Belastung durch die derzeitige Krise noch die beängstigende Erfahrung eines immer unverhohlener geäußerten ­Antisemitismus hinzu. Zumal dieser, wie Dina Porat vom Kantor Center sagt, »nicht nur von Rechtsextremen, christlichen Radikalen oder Islamisten, sondern auch aus der Mitte der Gesellschaft kommt«.