Small Talk mit Anne Renzenbrink, Pressereferentin von »Reporter ohne Grenzen«, über das Urteil gegen Deniz Yücel

»Die türkische Justiz ist politisiert«

Am Donnerstag vergangener Woche verurteilte ein türkisches Gericht den Welt-Redakteur und Jungle World-Mitherausgeber Deniz Yücel in Abwesenheit wegen Terrorpropaganda zu einer Haftstrafe von zwei Jahren, neun Monaten und 22 Tagen. Die Jungle World hat mit Anne Renzenbrink gesprochen. Sie ist Pressereferentin von »Reporter ohne Grenzen«.
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Wie bewerten Sie das Urteil?
Wir sind schockiert, dass an dem Vorwurf der Terrorpropaganda festgehalten und Deniz Yücel deswegen zu einer fast dreijährigen Haftstrafe verurteilt wurde. Die Vorwürfe sind absolut nicht haltbar. Zugleich sind wir aber auch nicht sonderlich überrascht. Das Verfahren, und nicht nur dieses, zeigt, wie politisiert die türkische Justiz leider ist. Es handelt sich um eine Willkürjustiz, in der alles passieren kann. Wir sind natürlich erleichtert, dass Yücel wieder in Deutschland ist und in Freiheit lebt. Aber das Urteil zeigt, wie schlecht es um die Rechtsstaatlichkeit in der Türkei bestellt ist. Das bereitet uns vor allem große Sorgen wegen der Journalistinnen und Journalisten, die in der Türkei sind, der türkischen Kolleginnen und Kollegen.

Ist der Vorwurf, dass journalistische Arbeit Terrorpropaganda sei, typisch für autoritäre Staaten wie die Türkei?
Wir beobachten auch in anderen Ländern, dass Terrorismusvorwürfe herangezogen werden, um gegen kritische Berichterstattung ­vorzugehen. Wir beobachten aber vor allem in der Türkei, dass einem Großteil der Medienschaffenden, die vor Gericht stehen, Terror­propaganda oder Mitgliedschaft in einer Terrororganisation vorgeworfen wird. Teils werden da auch verschiedene Organisationen genannt, die sich ideologisch völlig widersprechen – das ergibt alles inhaltlich überhaupt keinen Sinn. Wegen solcher Vorwürfe drohen den Angeklagten lange Haftstrafen.

Können Sie beziffern, wie viele Journalisten in der Türkei wegen ihrer Arbeit vor Gericht stehen oder im Gefängnis sitzen?
Wir zählen derzeit mindestens 22 Medienschaffende, die in direktem Zusammenhang mit ihrer journalistischen Arbeit im Gefängnis sitzen. Die Betonung liegt auf »mindestens«, denn die Zahlen sind nur schwer zu ermitteln. Wir wissen, dass Dutzende weitere Medienschaffende im Gefängnis sitzen. Aber wir können nicht immer sofort den direkten Zusammenhang mit der journalistischen Arbeit nachweisen. Oft ist das sehr wahrscheinlich, aber solange wir nicht hundertprozentig sicher sein können, kommen diese Fälle nicht in unsere Statistik.

Auf der Rangliste der Pressefreiheit steht die Türkei auf Platz 154 von 180 Staaten. Wie kommt das Ranking zustande?
Grundlage ist ein Fragebogen, der an zahlreiche Expertinnen und Experten weltweit verschickt und dann ausgewertet wird. Außerdem fließt ein, wie viele Übergriffe auf Medienschaffende stattgefunden haben. Der Zustand der Pressefreiheit hat sich nach dem Putschversuch vor vier Jahren stark verschlechtert. Neben den Inhaftierungen und Willkürprozessen ist es auch der Medienpluralismus, der stark angegriffen wurde. Einige Medien, sowohl Zeitungen als auch Fernsehsender, wurden geschlossen, andere wechselten den Besitzer. Mittlerweile gehören etwa 85 Prozent der nationalen Medien re­gierungsfreundlichen Geschäftsleuten und folgen der ­offiziellen Linie. Aber noch ist die Pressefreiheit in der Türkei nicht komplett tot. Noch gibt es sehr mutige Kolleginnen und Kollegen, die dort kritisch berichten – auch wenn die Reichweite ihrer Medien zum Teil sehr gering ist.