Erinnerungen an Vern Rumsey

Punk im Wortsinn

Der Musiker Vern Rumsey ist Anfang August gestorben. Er war Mitglied in zahlreichen Bands, allen voran bei Unwound, bei denen er Bass spielte, und eine wichtige Figur in der Musikszene von Olympia, Washington.

Unter den zahlreichen Bands, die in den neunziger Jahren aus Olympia, Washington, kamen, waren Unwound, die von 1991 bis 2002 bestanden, eine der verlässlichsten. Dem örtlichen DIY-Ethos streng verpflichtet, aber niemals pedantisch oder pädagogisch, spielte sich das Trio aus Justin Trosper (Gitarre/Gesang), Vern Rumsey (Bass) und Sara Lund (Schlagzeug) konsequent eigenständig durch das Jahrzehnt. Das Resultat mag man musikhistorisch unter Post-Hardcore einsortieren, Punk – im Wortsinn – trifft es allerdings eher. Denn Langeweile und Frustration, die rasch in Lethargie und Verzweiflung umkippen und so manches jugendliche Leben in eine eingebildete oder reale Hölle verwandeln, wurden hier von Anfang an bravourös abgefertigt. Schon »Dragnalus«, der erste Song auf dem ersten regulären Album »Fake Train« von 1993, konterte jene Apathie und Bedrängnis, die Heranwachsenden gut bekannt sind, mit so knappen wie eingängigen Zeilen, die nichts an Gültigkeit eingebüßt haben: »This song/That song/Love song/Hate song/You’re so bored with/ My life/Your life/This life/Our lives/You’re so bored with«; »I don’t feel strange/I don’t feel anything«. Diese und ähnliche Botschaften erschlossen sich überall. Unwound gaben im Laufe ihrer Bandgeschichte Hunderte Konzerte in den Vereinigten Staaten und Europa. Ihr Sound entwickelte sich kontinuierlich weiter, um am Ende, mit dem 2001 erschienenen Album »Leaves Turn Inside You«, an einem ganz anderen Punkt anzulangen.

Rumseys unentwegtes Zigarettenrauchen auf der Bühne stand sinnbildlich für die Punk-Attitüde, auf alles zu pfeifen, allerdings auch für die Sorglosigkeit, mit der er sich selbst behandelte.

Als Teenager hatten Justin Trosper und Vern Rumsey die Band 1991 gemeinsam mit Brandt Sandeno in Olympias Nachbarstadt Tumwater gegründet. 1992 stieg Sandeno aus, blieb jedoch im Freundeskreis seiner beiden einstigen Mitschüler. Ihn ersetzte Sara Lund, und in dieser Kon­stellation bestanden Unwound für die folgenden zehn Jahre. Sie entwickelten sich rasch zur produktivsten aller Bands auf Kill Rock Stars. Das Label, das zur selben Zeit unter anderem Bikini Kill, Bratmobile und Universal Order of Armageddon, später dann Sleater-Kinney verlegte, veröffentlichte sechs ihrer Alben, zahlreiche Singles, eine Compilation ebendieser sowie eine Remix-12-Inch. 2012, zehn Jahre nach ihrer Auflösung, legte die Gruppe mit »Live Leaves« zudem eine Doppel-LP vor, die als gekonnte Verweigerung eines Live­albums verstanden werden darf.

Im vergangenen Jahrzehnt trug das archivarische Label Numero Group das Gesamtwerk der Band zusammen und veröffentlichte es in Form mehrerer Box-Sets, die retrospektiv Aufschluss über die beachtlichen Leistungen eines Trios geben, das nie auch nur eine Spur von Kommerzialisierbarkeit entwickelt hatte. Den Ausschau haltenden Major-Labels dürfte ohnehin klar gewesen sein, dass der Sound von Unwound unmöglich zu zähmen war. Zahlreiche Stücke waren viel zu lang, vor allem aber zu vertrackt und herausfordernd, als dass ein auf Massenkompatibi­lität bedachter Produzent sie noch hätte glätten können. Die Haltung der Band, die an Kurt Cobain die Auswirkungen eines sich über Nacht einstellenden Ruhms beobachtet hatte, tat ein Übriges, um Abstand zur Industrie zu wahren.

Eine der bemerkenswerten Qualitäten von Unwound war, eine Art komplementärer Verdichtung ihrer Musik: Schlagzeug, Bass und Gitarre waren hier gleichberechtigt. Wer sich durch den Backkatalog hört, kann jedem Instrument einzeln und mit erheblichem Gewinn folgen. Rumsey und Lund stellten schlichtweg die beste Rhythmussektion des gesamten Post-Hardcore. Schlagzeugerin Lund gab ihren beiden Mitmusikern den Rhythmus nicht einfach vor, sondern erschloss mit ihrem so präzisen wie harten Spiel einen Raum, den die drei sich dann teilten. Die zehnminütige B-Seite der erwähnten Remix-12-Inch von 1997 reihte die Drumbeats diverser Unwound-Songs aneinander – wer eine solch originelle Drummerin hat, hat wahrlich nichts zu fürchten.

Mit Rumseys unverkennbaren Basslines wiederum begannen manche der eingängigsten Lieder der Band – so etwa »Valentine Card« auf »Fake Train«, »Corpse Pose« auf »Repetition« (1996) oder »December« auf »Leaves Turn Inside You«. Live wirkte dies besonders imposant, zumal der Bassist solch eine freund­liche, zugewandte Erscheinung war. Sein unentwegtes Zigarettenrauchen auf der Bühne stand sinnbildlich für die Punk-Attitüde, auf alles zu pfeifen, allerdings auch für die Sorglosigkeit, mit der er sich selbst behandelte.

Rumsey war wegen der Meisterschaft auf seinem Instrument als Musiker gefragt und sprang etwa bei Blonde Redhead für das Album »Fake Can Be Just as Good« von 1997 als Bassist ein. Für die örtliche ­Szene tat er ebenfalls viel. In den neunziger Jahren betrieb er ein ­Fanzine und Label mit dem Namen »Punk In My Vitamins?«, auf dem befreundete Bands veröffentlichten. Auch sein Witz war unverkennbar: Auf dem 1995 veröffentlichten Un­wound-Album »The Future of What« fand sich mit dem Stück »Vern’s Answer to the Masses« eine fast schon humoristisch zu nennende Replik auf Massengeschmack und -bedürfnisse.

Trospers Lyrics schließlich fielen manchmal erstaunlich hellsichtig aus. Mit »Hexenzsene« (sic) etwa, einem Song auf »New Plastic Ideas« von 1994, kommentierte dieser am Beispiel des Evergreen State College in Olympia etwas, das sich seither zu gängiger akademisch-politischer Praxis verselbständigt hat und im 21. Jahrhundert weitverbreitet ist – nämlich das Beschämen von miss­liebigen Gedanken, wobei andere aus dem Uniseminar mit schlaumeierischer Rückversicherung zurecht­gewiesen werden: »Ex on you, next in line/Shames on you all of the time/And now you’re alien«; »Some advise: do not offend«.

1998 erschien mit »Challenge for a Civilized Society« das vorletzte Album von Unwound. In dessen Mittelteil findet sich eine Abfolge von drei Songs, die aufzeigen, wie gewandt das Trio am Ende des Jahrzehnts war: »Sonata for Loudspeakers«, ein Instrumental, gefolgt vom anderthalbminütigen und damit für die Band recht untypischen »No Tech!«, sowie »Side Effects of Being Tired« – ein Lied, auf dem zur Abwechslung Rumsey singt, was im Repertoire von Unwound eine Ausnahme bleiben sollte. Der Song kracht los, um nach weniger als zwei Minuten einen apokalyptisch gestimmten Punkt zu erreichen und dann für sieben wei­tere dystopisch hin und her zu changieren, als würde mit dem Hörer bereits von andernorts kommuniziert. Die beiden ersten Zeilen des Lieds lauteten: »I hold my breath/Your lungs collapse«. Tatsächlich legte der Sound von Unwound streckenweise nahe, dass Atemlosigkeit und Kollaps unmittelbar drohten – allerdings nur, um immer wieder unerwartete Wendungen folgen zu lassen.

Als die Band 2001 ihr siebtes und letztes Album veröffentlichte, war die Differenz zum Klang der Vorgänger erheblich: Das geradezu filigran anmutende »Leaves Turn Inside You« kann als Ende einer musikalischen Ära verstanden werden, die in den späten achtziger Jahren ihren Anfang genommen hatte. Die Anschläge vom 11. September desselben Jahrs wirkten sich direkt auf Trosper, Rumsey und Lund aus, die sich gerade auf Tour befanden und just an jenem Tag auf in New York City hätten auftreten sollen. Interne Schwierigkeiten führten zur baldigen Trennung, 2002 traten Unwound ein letztes Mal in Olympia auf. Der Band-Reunion-Euphorie der beiden vergangenen Jahrzehnte verweigerten sie sich.

Wer die Produktivität der Gruppe in den Neunzigern verfolgte, war geneigt, der verlockenden Illusion aufzusitzen, dass es immer so weitergehen würde. Doch auch wenn Innovation, Unabhängigkeit und Weiterentwicklung überwogen, ließ das Trio nie von seinem düster, manchmal auch beklemmend anmutenden Grundton ab. Dieser ist folglich auch nicht vom Gesamtbild zu lösen, das bald drei Jahrzehnte nach Bandgründung fortbesteht.

Vern Rumsey starb am 6. August 2020 im Alter von 47 Jahren. Er spielte zuletzt bei Household Gods, einer Band, die 2019 bereits den plötzlichen Tod ihrer Schlagzeugerin Lauren K. Neuman verkraften musste und auf die Nachricht hin, dass das zweite Bandmitglied verstorben war, aufgelöst wurde; das posthume Debüt­album erscheint im Oktober. Slim Moon, ein Mitgründer von Kill Rock Stars, hat in seinem Nachruf auf den befreundeten Musiker und langjährigen Weggefährten darauf hin­gewiesen, dass Punk eine gefährliche Angelegenheit sei, und betont, dass es sich bei dieser Einschätzung keineswegs um eine romantisierende Vorstellung handle. Im Gegenteil: Die destruktiven Seiten des Genres seien die fatalsten. Dass auch die Mitglieder der intelligentesten Bands hiervor nicht gefeit sind, ist besonders in diesem Fall eine Tragödie.